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Werke Augustinus von Hippo (354-430) De doctrina christiana

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Vier Bücher über die christliche Lehre (BKV)

30. Kapitel: Unsere Nächsten sind alle Menschen und selbst die Engel

31. In diesem Zusammenhang drängt sich uns eine Frage bezüglich der Engel auf. Sie sind selig durch den Genuß dessen, den auch wir zu genießen verlangen. Je mehr wir ihn in diesem Leben im Spiegel oder wie in einem Rätsel1 genießen, desto geduldiger halten wir unsere Wanderschaft aus und desto sehnsüchtiger wünschen wir sie zu beenden. Ob aber zu jenen zwei Geboten auch die Liebe zu den Engeln gehört, das ist keine unvernünftige Frage. Denn daß jener, der die Nächstenliebe anbefohlen hat, keinen Menschen ausschließt, sagt der Herr im Evangelium selbst und auch der Apostel Paulus. Jener Schriftgelehrte, dem er die zwei Gebote vorgehalten und gesagt hatte, an ihnen hänge das ganze Gesetz und die Propheten, fragte ihn nämlich: „Und wer ist denn mein Nächster2?“ Daraufhin stellte ihm Christus einen Menschen vor, der auf einer Reise von Jerusalem nach Jericho unter die Straßenräuber gefallen, von ihnen schwer verwundet und schließlich übel zugerichtet und halb tot liegen gelassen worden war; und nun zeigte der Herr dem Schriftgelehrten, daß dessen Nächster nur jener war, der gegen ihn, den der Erquickung und der Heilung bedürftigen Mann, barmherzig war, was der Fragesteller selbst zugestehen mußte. Diesem sagte der Herr: „Gehe hin und tue desgleichen!“, damit wir einsehen möchten, es sei derjenige unser Nächster, dem ein Dienst der Barmherzigkeit erwiesen werden muß, sobald er dessen bedarf, oder dem er wenigstens erwiesen werden müßte, wenn er dessen bedürfte. Daraus ergibt sich auch die S. 38Folgerung, daß auch jener unser Nächster ist, von dem umgekehrt auch uns ein solcher Dienst geleistet werden muß. Denn der Name „Nächster“ bedeutet jemandem wirklich nahe sein, und nur wem man wirklich ganz nahe steht, dem kann man Nächster sein. Wer sieht aber nicht ein, daß keinem ohne Ausnahme ein Dienst der Barmherzigkeit verweigert werden darf? Erstreckt sich diese Pflicht ja sogar auf die Feinde, da der Herr sagt: „Liebet eure Feinde! Tut Gutes denen, die euch hassen3!“

32. So lehrt auch der Apostel Paulus, wenn er sagt: „Denn das Verbot: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht lüstern sein und jedes andere Gebot ist in das Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; die Liebe zum Nächsten tut nichts Böses4.“ Wer also glaubt, der Apostel habe nicht jeden Menschen in dieses Gebot eingeschlossen, muß das höchst abgeschmackte und frevelhafte Zugeständnis machen, der Apostel habe es für keine Sünde gehalten, wenn einer mit dem Weibe eines Nichtchristen oder seines Feindes die Ehe bricht oder wenn er ihn tötet oder nach seinem Gute trachtet. Wenn aber eine solche Behauptung ein Kennzeichen des Wahnsinnes wäre, so ist klar, daß man jeden Menschen für seinen Nächsten halten muß, weil man ja gegen gar niemanden Böses verüben darf.

33. Wenn also derjenige, an dem und auch derjenige, von dem ein Werk der Barmherzigkeit zu üben ist, mit Recht unser Nächster genannt wird, so ist es klar, daß in das Gebot der Nächstenliebe auch die heiligen Engel eingeschlossen sind; denn von jenen werden uns, was aus vielen Stellen der Heiligen Schrift leicht ersichtlich ist, sehr große Werke der Barmherzigkeit erwiesen. Aus diesem Grund hat sogar Gott, unser Herr, unser Nächster heißen wollen. Denn der Herr Jesus Christus bezeichnet sich selbst als jenen (barmherzigen S. 39Samaritan), der dem halbtot Daliegenden zu Hilfe kam, als er auf dem Weg von Räubern verwundet und liegen gelassen worden war5. Und der Psalmist sagt in einem Gebet: „Wie einem Nächsten und wie unserem Bruder, so war ich zu Diensten6.“ Weil aber das Wesen Gottes vortrefflicher und über unsere Natur erhaben ist, so besteht ein Unterschied zwischen dem Gebot der Gottesliebe und dem der Nächstenliebe. Gott erweist uns nämlich Barmherzigkeit wegen seiner eigenen Güte, wir Menschen aber erweisen uns gegenseitig Barmherzigkeit wegen seiner Güte; das heißt, er erbarmt sich über uns, damit wir ihn genießen möchten, wir aber erbarmen uns gegenseitig, um ihn zu genießen.


  1. Vgl. 1 Kor. 13, 12. ↩

  2. Luk. 10, 29 ff. ↩

  3. Matth. 5, 44. ↩

  4. Röm. 13, 9 f. ↩

  5. Vgl. Luk. 10, 30 ff. ↩

  6. Ps. 34, 14. ↩

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De doctrina Christiana

CAPUT XXX.-- Proximi nostri, omnes homines, et ipsi Angeli.

31. Oritur autem hoc loco de Angelis nonnulla quaestio. Illo enim fruentes, etiam ipsi beati sunt, quo [P. 0031] et nos frui desideramus: et quanto in hac vita fruimur vel per speculum vel in aenigmate 1, tanto nostram peregrinationem et tolerabilius sustinemus, et ardentius finire cupimus. Sed utrum ad illa duo praecepta etiam dilectio pertineat Angelorum, non irrationabiliter quaeri potest. Nam quod nullum hominum exceperit qui praecepit ut proximum diligamus, et ipse in Evangelio Dominus ostendit, et Paulus apostolus. Namque ille cui duo ipsa praecepta protulerat, atque in eis pendere totam Legem Prophetasque dixerat, cum interrogaret eum dicens, Et quis est meus proximus? hominem quemdam proposuit descendentem ab Jerusalem in Jericho, incidisse in latrones, et ab eis graviter vulneratum, saucium et semivivum esse derelictum; cui proximum esse non docuit, nisi qui erga illum recreandum atque curandum misericors exstitit, ita ut hoc qui interrogaverat, interrogatus ipse fateretur. Cui Dominus ait, Vade, et tu fac similiter 2; ut videlicet eum esse proximum intelligamus, cui vel exhibendum est officium misericordiae, si indiget, vel exhibendum esset, si indigeret. Ex quo est jam consequens ut etiam ille a quo nobis hoc vicissim exhibendum est, proximus sit noster. Proximi enim nomen ad aliquid est, nec quisquam esse proximus nisi proximo potest. Nullum autem exceptum esse cui misericordiae denegetur officium, quis non videat, quando usque ad inimicos etiam porrectum est, eodem Domino dicente: Diligite inimicos vestros, benefacite iis qui oderunt vos 3 ?

32. Ita quoque Paulus apostolus docet, cum dicit: Nam non adulterabis, non homicidium facies, non furaberis, non concupisces, et si quod est aliud mandatum, in hoc sermone recapitulatur: Diliges proximum tuum tanquam teipsum. Dilectio proximi malum non operatur 4. Quisquis ergo arbitratur non de omni homine Apostolum praecepisse, cogitur fateri, quod absurdissimum et sceleratissimum est, fuisse visum Apostolo non esse peccatum si quis aut non christiani, aut inimici adulteraverit uxorem, aut eum occiderit, aut ejus rem concupierit: quod si dementis est dicere, manifestum est omnem hominem proximum esse deputandum, quia erga neminem operandum est malum.

33. Jamvero si vel cui praebendum est, vel a quo nobis praebendum est officium misericordiae, recte proximus dicitur; manifestum est hoc praecepto quo jubemur diligere proximum, etiam sanctos Angelos contineri, a quibus tanta nobis misericordiae impenduntur officia, quanta multis divinarum Scripturarum locis animadvertere facile est. Ex quo et ipse Deus et Dominus noster proximum se nostrum dici voluit. Nam et seipsum significat Dominus Jesus Christus opitulatum esse semivivo jacenti in via afflicto et relicto a latronibus. Et propheta in oratione ait: Sicut proximum, sicut fratrem nostrum, ita complacebam 5. Sed quoniam excellentior ac supra nostram naturam est divina substantia, praeceptum [P. 0032] quo diligamus Deum, a proximi dilectione distinctum est. Ille enim nobis praebet misericordiam propter suam bonitatem, nos autem nobis invicem propter illius: id est, ille nostri miseretur, ut se perfruamur; nos vero invicem nostri miseremur, ut illo perfruamur.


  1. I Cor. XIII, 12  ↩

  2. Luc. X, 27, 37  ↩

  3. Matth. V, 44 ↩

  4. Rom. XIII, 9, 10 ↩

  5. Psal. XXXIV, 14 ↩

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