8. und 9. Kapitel: Gott als die unveränderliche Weisheit verdient selbstverständlich den Vorrang vor allen Sachen
8. Da sich nun alle Menschen, die über Gott nachdenken, ihren Gott als etwas Lebendiges vorstellen, so können nur jene eine vernünftige und würdige Vorstellung von Gott haben, die ihn als das Leben selbst denken. Mag ihnen irgendein beliebiges körperliches Wesen begegnen, so sagen sie sich: das Vorhandensein (oder Nichtvorhandensein) des Lebens ist schuld daran, daß dieses körperliche Wesen lebt oder nicht lebt; lebt das Körperwesen, so ziehen sie das einem nicht lebenden Körperwesen vor. Was nun die belebte Körpergestalt anbelangt, so mag sie noch so sehr im Lichte strahlen, durch Größe hervorragen und im Schmuck der Schönheit glänzen, so verstehen sie doch etwas anderes unter dem Leben an sich und der (zufälligen) Lebenserscheinung (an diesem körperlichen Wesen). Gegenüber der bloß belebten und beseelten Körpermasse schreiben sie dem Leben selbst eine unvergleichliche Würde zu. Sie betrachten sich sofort die Art der (zufälligen) Lebenserscheinung, und wenn sie finden, daß es bloß so ohne Gefühl dahinlebt (vegetiert), wie z. B. das Leben der Bäume, so ziehen sie ihm das fühlende Leben vor, wie es z. B. bei den Tieren ist. Vor diesem räumen sie hinwiederum dem vernünftigen Leben, wie es z. B. der Mensch hat, den Vorrang ein. Wenn sie aber sehen, S. 21daß auch diese Lebensart veränderlich ist, dann müssen sie auch diesem Leben irgendein unveränderliches Leben vorziehen, nämlich ein Leben, das nicht bald weise ist, bald wieder nicht, sondern das vielmehr die Weisheit selber ist. Denn ein Geist, der weise ist in dem Sinne, daß er die Weisheit selber erst zugeteilt erhielt, war nicht weise, bevor er die Weisheit erhielt; die Weisheit selbst dagegen war weder selbst einmal unweise noch kann sie unweise sein. Würden sie diese Weisheit nicht erkennen, so zögen sie doch nicht mit voller Zuversicht ein unveränderlich weises Leben einem veränderlichen Leben vor. Das stete Gesetz der Wahrheit nun, durch das jenes Leben, wie sie laut versichern, den Vorzug der Güte hat, halten sie gewiß für unveränderlich; da sie sich selbst aber für veränderlich erklären, so können sie dieses Gesetz der Wahrheit nur über ihrer eigenen Natur finden.
9. Niemand ist so unbescheiden töricht, daß er fragte: „Ja, warum soll denn das unveränderlich weise Leben einen Vorzug vor dem veränderlichen verdienen?“ Denn gerade das, nach dessen Grund er fragt, liegt ja für jedermann und in unveränderlicher Weise klar zutage, so daß es jeder nur zu betrachten braucht. Und wer das nicht sieht, der ist trotz der Sonne gewissermaßen blind; ihm nützt auch der Glanz eines so klaren und nahen Lichtes gar nichts, und wenn es ihm schon förmlich in das Auge strahlt. Wer aber sieht und doch nichts wissen will, dessen Geistesschärfe ist durch den zur Gewohnheit gewordenen Aufenthalt im Schatten der fleischlichen Gelüste ganz abgestumpft worden. Die bösen Sitten also sind die widrigen Stürme, wodurch die Menschen von ihrem Vaterland wegverschlagen werden; dann suchen sie Güter von weit geringerem Werte als jenes Gut, das, wie sie selbst zugeben müssen, weit besser und vorzüglicher ist.
