36. Kapitel: Die sechste Regel des Tychonius
52. Die sechste Regel nennt Tychonius Wiederholung, die man an dunklen Stellen der Heiligen Schrift bei hinreichender Aufmerksamkeit entdecken kann. Manches wird nämlich so dargelegt, als halte es sich an die zeitliche Ordnung oder als werde es nach dem sachlichen Zusammenhang erzählt, während die Erzählung in Wirklichkeit unvermerkt auf früher Übergangenes zurückgreift. Erforscht man nun den Sinn solcher Stellen nicht nach der vorliegenden (sechsten) S. 155Regel, so geht man irre. So heißt es in der Genesis: „Und der Herr Gott pflanzte gegen Morgen das Paradies in Eden und setzte darein den Menschen, den er gebildet. Und Gott brachte aus dem Boden allerlei Bäume hervor, die schön zum Anschauen und gut zum Essen waren1.“ Dies scheint so gesagt zu sein, als sei es geschehen, nachdem Gott den erschaffenen Menschen ins Paradies versetzt hatte. Aber nach kurzer Erwähnung der beiden Tatsachen, der Pflanzung des Paradieses nämlich und der Versetzung des von Gott gebildeten Menschen in dieses Paradies, greift er (der biblische Verfasser) wiederholend zurück und erzählt das Übergangene, wie nämlich das Paradies dadurch gepflanzt wurde, daß Gott aus dem Boden allerlei Bäume hervorbrachte, die schön anzuschauen und gut zu essen waren. In unmittelbarer Folge verbindet er damit: „Auch den Baum des Lebens in der Mitte des Paradieses und den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen2.“ Hierauf wird dargelegt, daß der Fluß, von dem das Paradies bewässert werden sollte, in die vier Quellen von vier Strömen geteilt worden sei, ein Umstand, der sich auch noch ganz auf die Ausstattung des Paradieses bezieht. Nach Beendigung dieser Erzählung wiederholt er, was er schon früher gesagt hatte, was aber in der Tat erst jetzt folgte, und sagt: „Und es nahm der Herr Gott den Menschen, den er gebildet hatte, und versetzte ihn in das Paradies …3“; denn erst nach Erschaffung der Dinge wurde der Mensch ins Paradies versetzt, und nicht nach der Versetzung des Menschen wurden die Dinge erst erschaffen; in letzterem Sinn könnte man nämlich die früheren Worte verstehen, wenn man nicht bei sorgsamem Aufpassen an dieser Stelle eine Wiederholung erkennen würde, durch die einfach etwas Übergangenes wieder aufgenommen wird.
53. Ebenso wurde in demselben Buche bei Erwähnung der Geschlechter der Söhne Noes gesagt: „Dies S. 156sind die Söhne des Cham nach ihren Stämmen und Sprachen und Geschlechtern, nach ihren Ländern und Völkerschaften4.“ Auch nach Aufzählung der Söhne Sems heißt es: „Dies sind die Söhne Sems nach ihren Stämmen und Sprachen, Ländern und Völkerschaften5.“ Und in Betreff aller (Nachkommen des Noe) wird beigefügt: „Das sind die Geschlechter der Söhne Noes nach ihren Völkern und Nationen. Aus ihnen schieden sich die Völkerinseln auf Erden nach der Flut. Es war aber auf Erden nur ein Mund und eine Stimme für alle6.“ Dieser Zusatz: „Es war aber auf Erden nur ein Mund und eine Stimme für alle“, das heißt, eine Sprache scheint so gesprochen worden zu sein, als hätten die Menschen auch noch zur Zeit ihrer Zerstreuung nach den Völkerinseln nur eine allen gemeinsame Sprache gehabt. Dies steht aber zweifelsohne in offenem Widerspruch mit den früher angeführten Worten: „… nach ihren Stämmen und Sprachen.“ Man könnte nämlich nicht sagen, die einzelnen Stämme, welche die einzelnen Völker bildeten, hätten ihre (eigene) Sprache gehabt, wenn sie alle eine gemeinsame Sprache gehabt hätten. Daher ist es nur eine Wiederholung, wenn beigefügt wurde: „Und auf der ganzen Erde war nur ein Mund und eine Stimme für alle.“ Es wendet sich nämlich die Erzählung unvermerkt wieder zurück, um anzugeben, wie es gekommen sei, daß die Menschen nach vielen Sprachen geteilt wurden, nachdem sie doch (ursprünglich) nur eine Sprache besessen hatten. Darum wird auch im unmittelbaren Zusammenhang von der Erbauung jenes Turmes (von Babel) erzählt7, wo ihnen durch Gottes Gericht diese Strafe für ihren Hochmut auferlegt wurde. Nach dieser Begebenheit sind sie nach ihren eigenen Sprachen auf Erden zerstreut worden.
54. So eine Wiederholung erfolgt auch auf verdeckte Art; so, wenn der Herr im Evangelium sagt: „An S. 157dem Tage, wo Loth aus Sodoma wegging, regnete es Feuer vom Himmel und vertilgte alle: so wird es auch an dem Tage sein, an dem der Sohn des Menschen offenbar werden wird. An jenem Tage steige der, welcher auf dem Dache ist, während sich sein Gerät im Hause befindet, nicht herab um es zu holen, und wer auf dem Felde ist, der kehre ebenfalls nicht zurück: er gedenke vielmehr des Weibes des Loth8!“ Soll man denn am Tage der Offenbarung des Herrn darauf achten, daß keiner rückwärts blicke, d. h. das vergangene Leben, dem er widersagt hat, untersuche, oder soll er es nicht vielmehr jetzt tun, damit er am Tage der Offenbarung des Herrn den Lohn für das empfange, was er beachtet und verachtet hat? Bei dem Wortlaut „in dieser Stunde“ glaubt man, es sei am Tage der Offenbarung des Herrn zu beobachten, wenn sich nicht der Sinn des Lesers achtsam dem Verständnis der Wiederholung zuwendet. Dazu verhilft ihm eine andere Schriftstelle, die noch zur Zeit der Apostel ruft: „Söhne, die letzte Stunde ist da9!“ Also gerade die Zeit der Verkündigung des Evangeliums bis zur Offenbarung des Herrn ist die Stunde, zu der das zu beachten ist, weil auch die Offenbarung des Herrn noch zu derselben Stunde gehört, die erst mit dem Tage des Gerichtes beendet wird.
