7. Kapitel: An einem Beispiel aus den Briefen des Apostels Paulus und aus dem Buche Amos wird die tatsächliche Verbindung zwischen weisem Inhalt und künstlerischer Form bei den heiligen Schriftstellen ausführlich nachgewiesen
11. Wer sollte nicht den Sinn und die Weisheit der Worte des Apostels (Paulus) einsehen, wenn er sagt: „Wir rühmen uns in den Trübsalen, weil wir wissen, daß die Trübsal Geduld bewirkt, die Geduld aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung; die Hoffnung S. 170aber läßt nicht zu Schanden werden: denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist1.“ Wenn an dieser Stelle ein Kenner, um mich so auszudrücken, recht unkennerhaft behaupten wollte, der Apostel habe hier ganz unabsichtlich rhetorische Vorschriften befolgt, würde der nicht von gelehrten und ungelehrten Christen verlacht? Erkennt man ja doch hier die rednerische Figur, die man im Griechischen κλίμαξ (Leiter), im Lateinischen aber manchmal gradatio (Steigerung) heißt. „Leiter“ (scala) wollte man sie nämlich (im Lateinischen) nicht nennen, da sich die Worte und Gedanken in organischer Entwicklung auseinander entwickeln: so sehen wir z. B. an unserer Stelle die Trübsal mit der Geduld, die Geduld mit der Bewährung, die Bewährung aber mit der Hoffnung sich verbinden. Noch eine zweite (rhetorische) Feinheit kann man an unserer Schriftstelle sehen: nachdem nämlich einige Satzteile, die man bei uns „membra et caesa“ (Glieder und Einschnitte), bei den Griechen aber „κῶλα“ und „κόμματα“ heißt, mit besonderer Betonung abgeschlossen sind, erfolgt „die Umkehr oder die Wendung“ (ambitus sive circuitus), welche die Griechen „περίοδος“ nennen: deren Glieder spricht der Redner mit gehobener Stimme, bis die Periode schließlich ihren Abschluß findet. An unserer Stelle heißt von den der „Wendung“ vorausgehenden Gliedern das erste: „weil Trübsal Geduld bewirkt“, das zweite: „Geduld aber Bewährung“, das dritte: „Bewährung aber Hoffnung“. Daran reiht sich dann die sogenannte „Wendung“ (περίοδος) selbst, die wiederum in drei Gliedern durchgeführt wird, von denen das erste ist: „die Hoffnung aber läßt nicht zu Schanden werden“, das zweite: „denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz“, das dritte: „durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist“. Solches und Ähnliches aber wird in der Rhetorik gelernt. Wir behaupten nun zwar nicht, der Apostel habe die Vorschriften der Beredsamkeit absichtlich befolgt, wir leugnen aber auch nicht, daß seine Weisheit mit Beredsamkeit verbunden ist.
S. 17112. In einem Schreiben an die Korinther, nämlich in seinem zweiten Brief, widerlegt Paulus einige Gegner, die als falsche Apostel aus dem Judentum gekommen waren und ihn verleumdeten. Da er sich dabei selbst rühmen muß, rechnet er sich dies auf eine höchst weise und beredte Art zur Torheit. Aber als Gefährte der Weisheit ist er zugleich auch Führer der Beredsamkeit; indem er der Weisheit folgt, geht er zugleich auch vor der Beredsamkeit einher ohne ihre Gefolgschaft zu verschmähen. Seine Worte lauten: „Ich wiederhole es: Niemand halte mich für so töricht (, daß ich aus Eitelkeit mich rühme). Tut ihr es aber, so höret mich, wenn auch nur als Toren an und gestattet, daß auch ich mich ein wenig rühme. Was ich nun mit solcher Zuversicht zu meinem Ruhme rede, das sage ich freilich nicht wie einer, der sich von Gott leiten läßt, sondern gewissermaßen in Torheit. Da viele sich dem Fleische nach (ihrer äußeren, natürlichen Vorzüge) rühmen, so will auch ich mich einmal rühmen. Ihr seid ja kluge Leute und habt mit den Toren gerne Geduld. Ihr laßt es euch sogar gefallen, wenn euch einer knechtet, wenn euch einer ausbeutet, wenn euch einer überlistet, wenn sich einer stolz überhebt und euch ins Antlitz schlägt. Zu solchem Verfahren bin ich allerdings, zu meiner Schande bekenne ich es, zu schwach gewesen. Wessen sich einer aber keck rühmt, dessen darf auch ich mich rühmen, mag auch mein Rühmen als Torheit erscheinen. Sie sind Hebräer? Ich auch. Sie sind Israeliten? Ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams? Ich auch. Sie sind Diener Christi? Ich bin es, als Tor rede ich, in höherem Grade durch häufigere Mühen und zahlreichere Einkerkerungen, durch über die Maßen erlittene Schläge und öftere Todesgefahren. Von den Juden erhielt ich fünfmal neununddreißig Geißelhiebe, (von den Heiden) wurde ich dreimal mit Ruten gestrichen, einmal gesteinigt, dreimal litt ich Schiffbruch, Tag und Nacht habe ich auf hohem Meere zugebracht. Ich bin es mit größerem Rechte durch öftere Reisen, Gefahren auf Flüssen, Gefahren von Räubern, Gefahren von Stammesgenossen, Gefahren von Heiden, Gefahren in Städten, Gefahren in der Wüste, Gefahren auf dem S. 172Meere, Gefahren unter falschen Brüdern, durch Mühen und Beschwerden, durch häufigeres Wachen, durch Hunger und Durst, durch Kälte und Blöße. Dazu noch das, was von außen kommt, der tägliche Andrang zu mir, die Sorge für sämtliche Gemeinden. Ist einer schwach ohne daß ich mit ihm schwach bin (um ihn von seinem Falle aufzurichten)? Wird jemand zum Bösen verleitet ohne daß ich entbrenne (vor Eifer und Unwillen)? Soll ich mich nun einmal rühmen, so will ich mich meiner Schwäche rühmen2.“ Die Größe der Weisheit, die in diesen Worten liegt, sieht einer, der wachen Auges ist; den reißenden Fluß ihrer Beredsamkeit merkt einer aber auch noch im tiefen Schlaf.
13. Der Sachverständige vollends erkennt sodann, daß die Abschnitte, welche die Griechen „κόμματα“ nennen, die Glieder und Wendungen, von denen ich kurz vorher gesprochen habe, mit sehr passender Abwechslung gesetzt sind und den ganzen Schmuck jener Rede und gleichsam ihr Antlitz bilden, durch das auch Ungebildete ergötzt und gerührt werden. Denn an dem Punkte, wo wir die eben angeführte Schriftstelle beginnen ließen, setzen die sogenannten Wendungen ein. Die erste ist die kürzeste, d. h. sie ist bloß zweigliedrig; denn weniger als zwei Glieder kann eine Wendung nicht haben, wohl aber mehr. Die erste also heißt: „Ich wiederhole es: niemand halte mich für töricht.“ Es folgt dann eine dreigliedrige Wendung: „Tut ihr es aber, so höret mich, wenn auch nur als Toren, an und gestattet, daß auch ich mich ein wenig rühme.“ Die dritte nun folgende Wendung hat vier Glieder: „Was ich nun rede, mit solcher Zuversicht zu meinem Ruhme, das sage ich freilich nicht wie einer, der sich von Gott leiten läßt, sondern gewissermaßen in Torheit.“ Die vierte hat zwei Glieder: „Da sich viele dem Fleische nach rühmen, so will auch ich mich einmal rühmen.“ Auch die fünfte Wendung hat zwei Glieder: „Ihr seid ja kluge Leute und habt mit den Toren gerne Geduld.“ Auch die sechste ist zweigliedrig: „Ihr laßt es euch gefallen, S. 173wenn euch einer knechtet.“ Es folgen sodann drei Abschnitte: „… wenn euch einer ausbeutet, wenn euch einer überlistet, wenn sich einer stolz überhebt.“ Daran reihen sich nochmal drei Glieder: „… wenn euch einer ins Antlitz schlägt. Zu solchem Verfahren bin ich allerdings zu schwach gewesen, zu meiner Schande bekenne ich es.“ Daran schließt sich eine dreigliedrige Wendung: „Wessen sich einer aber keck rühmt, dessen darf auch ich mich rühmen, mag auch mein Rühmen als Torheit erscheinen.“ Von da an erfolgen auf die einzelnen in Frageform gesetzten Einschnitte in ebensovielen Einschnitten die Antworten, und zwar drei: Sie sind Hebräer? Ich auch. Sie sind Israeliten? Ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams? Ich auch. Auf den vierten Einschnitt, der in ähnlicher Frageform gesetzt ist, antwortet er nicht durch Entgegenstellung eines Einschnittes, sondern eines Gliedes. „Sie sind Diener Christi? Ich bin es, als Tor rede ich, in höherem Grade.“ Nun werden die vier folgenden Einschnitte, nachdem die Frageform höchst passend aufgegeben ist, gleichsam im raschen Flusse gesprochen: „… durch häufigere Mühen und zahlreichere Einkerkerungen, durch über die Maßen erlittene Schläge und öftere Todesgefahren.“ Es wird sodann eine kurze Wendung gesetzt, weil die Worte: „Von den Juden erhielt ich fünfmal“ als erstes Glied von dem zweiten „neununddreißig Geißelhiebe“ durch erhöhte Betonung unterschieden werden müssen. Dann kehrt die Rede wieder zu den Einschnitten zurück, deren zunächst drei gesetzt werden. „Dreimal wurde ich mit Ruten gestrichen, einmal gesteinigt, dreimal litt ich Schiffbruch.“ Hierauf folgt ein einzelnes Glied: „Tag und Nacht habe ich auf hohem Meere zugebracht.“ Sodann fließen vierzehn Einschnitte mit sehr passendem Ungestüm hervor: „… durch öftere Reisen, Gefahren auf Flüssen, Gefahren von Räubern, Gefahren von Stammesgenossen, Gefahren von Heiden, Gefahren in Städten, Gefahren in der Wüste, Gefahren auf dem Meere, Gefahren unter falschen Brüdern, durch Mühen und Beschwerden, durch häufigeres Wachen, durch Hunger und Durst, durch Kälte und Blöße.“ Darauf setzt er eine dreigliedrige Wendung: „Dazu noch das, S. 174was von außen kommt, der tägliche Andrang zu mir, die Sorge für sämtliche Gemeinden.“ Daran reiht er dann zwei Frageglieder: „Ist einer schwach ohne daß ich mit ihm schwach bin? Wird jemand zum Bösen verleitet ohne daß ich entbrenne?“ Zuletzt wird die ganze, gleichsam nach Atem ringende Stelle durch eine zweigliedrige Wendung abgeschlossen: „Soll ich mich nun einmal rühmen, so will ich mich meiner Schwäche rühmen.“ Wenn aber nun Paulus nach dieser stürmischen Periode durch Einschiebung einer kleinen Erzählung gewissermaßen ausruht und auch den Zuhörer ausruhen läßt, so liegt darin eine ganz außerordentliche (stilistische) Feinheit und (ästhetische) Ergötzung. Nachdem nämlich Paulus zunächst mit den Worten fortfährt: „Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, hochgelobt in Ewigkeit, weiß, daß ich nicht lüge3“, erzählt er sodann4 ganz kurz, wie er in Gefahr geriet, ihr aber noch entrann.
14. Es würde zu weit führen, wollte ich noch alles andere durchgehen oder an anderen Stellen der heiligen Schriften diese stilistischen Erscheinungen nachweisen. Hätte ich auch noch die in jener Kunst behandelten Redefiguren nur in dem erwähnten Ausspruch des Apostels behandeln wollen, würden mich dann nicht eher reife Männer für weitschweifig, als einer der Studierenden für ausführlich genug halten? Dieses ganze Wissen wird, wenn es von den Professoren gelehrt wird, hoch geschätzt, um hohen Preis gekauft und unter lautem Prahlen verkauft. Einen Geruch von Prahlerei habe auch ich zu befürchten, wenn ich mich darüber so ausführlich äußere. Aber ich mußte den eingebildeten Gelehrten eine Antwort geben, die unsere Verfasser für verächtlich halten, nicht weil sie nicht haben, sondern bloß weil sie nicht prunkend zeigen, was die Herren selbst allzu hoch einschätzen: — die Beredsamkeit.
S. 17515. Aber vielleicht könnte einer glauben, ich hätte eigens den Apostel Paulus ausgewählt, weil der eben unter den Männern unseres Glaubens beredt sei. Denn wenn er auch einmal sagt: „Wenn ich auch in der Redekunst unerfahren bin, so bin ich es doch nicht in der Erkenntnis5“, so scheint es doch, als hätte er damit seinen Verleumdern ein bloß äußeres Zugeständnis gemacht ohne damit auch bekannt zu haben, daß er diese Behauptung auch wirklich als richtig anerkenne. Hätte er nur gesagt: „unerfahren in der Redekunst“ und nicht hinzugefügt „aber doch nicht in der Erkenntnis“, so könnte man freilich seine Worte nicht anders (als wörtlich) verstehen. Daß er aber Erkenntnis besitze, dessen machte er sich unbedenklich anheischig; denn ohne sie könnte er ja gar nicht der Apostel der Heiden sein. Freilich, wenn wir von ihm etwas als Beleg für seine Beredsamkeit anführen, so entnehmen wir es seinen Briefen; denn diesen gestanden selbst seine Verleumder, die doch seine persönliche, mündliche Rede für verächtlich gehalten haben wollten, Gewicht und Kraft zu6.
Daher muß ich wohl auch etwas über die Beredsamkeit der Propheten sagen, bei denen so vieles durch die figürliche Ausdrucksweise verdeckt wird. Je mehr aber dasselbe durch übertragene Worte verdunkelt zu sein scheint, um so süßer mundet es, wenn es einmal eröffnet ist. Hier brauche ich jedoch bloß eine Stelle zu erwähnen, die ich nicht nach ihrem Inhalt erklären, sondern nur nach ihrer Form empfehlen muß. Und zwar möchte ich sie am liebsten aus dem Buche jenes Propheten nehmen, der selbst sagt, er sei Schaf- und Rinderhirte gewesen, als er von Gott diesem Beruf entzogen und ausgesendet worden sei, um dem Volke Gottes zu weissagen7. Ich will meine Stelle aber nicht nach dem Texte der siebzig Übersetzer anführen; denn ihr Werk ist, wenn es auch unter dem Beistand des Heiligen Geistes zustande kam, doch bloß eine Übersetzung, worin sie nach ihrem eigenen Kopf manches anders S. 176gesagt zu haben scheinen, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Erforschung des geistigen Sinnes zu lenken. Infolgedessen ist bei ihnen manches wegen seiner allzu figürlichen Fassung dunkel. (Ich gebe darum die Stelle nicht nach dem Septuagintatext,) sondern so, wie sie der in beiden Sprachen erfahrene Priester Hieronymus in seiner Übersetzung aus der hebräischen in die lateinische Sprache übertragen hat.
16. Als der dem Bauernstand angehörige oder wenigstens aus dem Bauernstand hervorgegangene Prophet (Amos) die gottlosen, hochmütigen, üppigen und deshalb im Werke der Bruderliebe höchst nachlässigen Mitmenschen tadeln mußte, da brach er in folgende Worte aus: „Wehe euch Reichen zu Sion, und die ihr vertrauet auf Samarias Berge, euch hohen Häuptern der Völker, die ihr mit Pomp ins Haus Israel kommet! Ziehet hin nach Chalane und schauet, gehet von da zum großen Emath und steiget hinab nach Geth im Philisterland und in all ihre besten Reiche, um zu sehen, ob ihr Gebiet größer ist als euer Gebiet! Ihr habt euch abgesondert für den schlimmen Tag und tretet nahe dem Sitze des Unrechts; ihr schlafet auf Betten von Elfenbein und schwelget auf euren Lagern; ihr verzehret die Lämmer von der Herde und die Kälber vom Mastvieh; ihr singet zum Klange des Saitenspieles —. gleich David wähnten sie Musikinstrumente zu haben. Sie tranken Wein in Schalen und salbten sich mit dem besten Öl: um die Leiden Josephs aber kümmerten sie sich nichts8.“ Hätten nun jene Leute, die selbst so gelehrt und beredt sind, die unsere Propheten aber als ungebildete und ungewandte Männer verachten, bei einem ähnlichen Anlaß zu ähnlich gearteten Menschen anders sprechen wollen, wenn anders sie nicht hätten verrückt sein wollen?
17. Was könnten auch vernünftige Ohren mehr verlangen wollen als die eben angeführte Rede? Mit welchem Getöse dröhnt doch der erste Angriff ans Ohr! S. 177Es ist, als ob die Sinne betäubt wären und er sie nun auferwecken wollte. „Wehe euch Reichen zu Sion, und die ihr vertrauet auf Samarias Berge, euch hohen Häuptern der Völker, die ihr mit Pomp ins Haus Israel kommet!“ Um sodann zu zeigen, daß sie gegen die Wohltaten Gottes, der ihnen ein großes Reich gegeben habe, undankbar seien, weil sie auf Samarias Berge, wo Götzen verehrt wurden, vertrauten, fährt der Prophet fort: „Ziehet hin nach Chalane und schauet, gehet von da zum großen Emath, ziehet hinab nach Geth im Philisterland und in all ihre besten Reiche, um zu sehen, ob ihr Gebiet größer ist als euer Gebiet!“ Dabei erhält die Rede durch die Ortsnamen wie durch Lichtpunkte ihren Schmuck; diese Namen sind: Sion, Samaria, Chalane, das große Emath und Geth im Philisterland. Auch die diese Ortsnamen verbindenden Ausdrücke weisen eine treffliche Abwechslung auf: Ihr Reichen, ihr vertrauet; ziehet hin, gehet, steiget hinab!
18. Es folgt nun ganz richtig die Ankündigung, daß die Gefangenschaft unter dem ungerechten König nahe sei. Es heißt nämlich weiter: „Ihr habt euch abgesondert für den schlimmen Tag und tretet nahe dem Sitze des Unrechts.“ Daran reihen sich die „Verdienste“ der Schwelgerei: „Ihr schlafet auf Betten von Elfenbein und schwelget auf euren Lagern; ihr verzehret die Lämmer von der Herde und die Kälber vom Mastvieh.“ Diese sechs Glieder bilden drei zweigliedrige Wendungen. Er sagt nämlich nicht: „Ihr habt euch abgesondert für den schlimmen Tag, ihr tretet nahe dem Sitze des Unrechts, ihr schlafet auf Betten von Elfenbein, ihr schwelget auf euren Lagern, ihr verzehret die Lämmer von der Herde und die Kälber vom Mastvieh.“ Wenn er sich so ausdrückte, so wäre das zwar auch schön, daß von dem immer wiederholten Pronomen sechs Glieder ausgingen, die schon sprachlich immer einen selbständigen Gedanken einschlössen. Aber schöner ist (das sprachliche Bild) dadurch geworden, daß unter einem Pronomen immer zwei Glieder zusammengefaßt wurden, die drei Gedanken erörtern. Der erste bezieht sich auf die Ankündigung der Gefangenschaft: „Ihr habt euch abgesondert S. 178für den schlimmen Tag und tretet nahe dem Sitze des Unrechts“; der zweite auf die sinnliche Lust: „Ihr schlafet auf Betten von Elfenbein und schwelget auf euren Lagern“; der dritte endlich bezieht sich auf die Gefräßigkeit: „Ihr verzehret die Lämmer der Herde und die Kälber vom Mastvieh“. Daher ist es dem Leser freigestellt, ob er die Glieder einzeln für sich nehmen und so sechs Glieder machen will oder ob er das erste, dritte und fünfte Glied mit gehobener Stimme sprechen und das zweite mit dem ersten, das vierte mit dem dritten und das sechste mit dem fünften verbinden und so höchst passend drei zweigliedrige Wendungen bilden will, wobei in der ersten das bevorstehende Unglück, in der zweiten das unreine Bett und in der dritten die schwelgerische Tafel gezeigt wird.
19. Der Prophet greift sodann den üppigen Ohrenkitzel heftig an. Aber nach den Worten: „Ihr singet zum Klange des Saitenspieles“, mäßigt er, weil die Musik von Weisen weise betrieben werden kann, mit wunderbarem Redeschmuck das Ungestüm des Angriffes und spricht nicht mehr (direkt in der zweiten Person) zu ihnen, sondern nur mehr (indirekt in der dritten Person) von ihnen. Um uns zu veranlassen, die Musik eines Weisen von der Musik eines Schwelgers zu unterscheiden, sagt er nicht: „Ihr singet zum Klange des Saitenspieles und wähnet gleich David Musikinstrumente zu haben“, sondern nachdem er zu ihnen gesagt hat, was Schwelger hören sollen: „Ihr singet zum Klange des Saitenspieles“, deutet er auch ihre Unkenntnis gewissermaßen andern an, indem er beifügte: „Gleich David wähnten sie Musikinstrumente zu haben, sie tranken Wein in Schalen und salbten sich mit dem besten Öle.“ Diese drei Glieder werden am besten so ausgesprochen, daß die zwei ersten Glieder mit erhöhter Stimme gesprochen, mit dem dritten aber abgeschlossen werden.
20. Die all diesen Gliedern beigefügten Worte: „Um die Leiden Josephs aber kümmerten sie sich nichts“ können entweder zusammenhängend als ein Glied oder besser als zweigliedrige Periode gelesen werden, indem S. 179die Worte: „Sie kümmerten sich nichts“ mit erhöhter Stimme ausgesprochen und nach dieser Unterscheidung die Worte: „Um die Leiden Josephs“ beigefügt werden. Mit wunderbarer Anmut ist nicht gesagt: „Sie kümmerten sich nichts um die Leiden des Bruders“, sondern anstatt „Bruder“ wurde „Joseph“ gesetzt in der Absicht, jeden Bruder mit dem Eigennamen desjenigen zu bezeichnen, dessen Ruhm in seinem Verhalten gegen seine Brüder, in dem Schlimmen, das er erlitt, und in dem Guten, mit dem er vergalt, gefeiert ist. Ob in der von mir gelernten und gelehrten Kunst (der Rhetorik) von dem Tropus, der unter Joseph jeden Bruder verstehen läßt, die Rede ist, weiß ich nicht. Wie schön er aber tatsächlich ist und wie sehr er sachverständige Leser ergreift, das braucht man einem, der es nicht selbst fühlt, gar nicht zu sagen.
21. Es ließe sich ja noch manches andere, auf rhetorische Vorschriften Bezügliche gerade an dieser beispielsweise angeführten Stelle auffinden. Aber sie belehrt einen freundlichen Zuhörer nicht so fast, wenn sie sorgfältig zergliedert wird, als sie ihn hinreißt, wenn sie mit Feuer vorgetragen wird. Denn diese Worte sind ja nicht durch menschliche Sorgfalt zusammengestellt, sondern durch den göttlichen Geist weise und beredt ergossen worden, so daß nicht die Weisheit auf die Beredsamkeit achtete, sondern die Beredsamkeit nicht von der Weisheit wich. Denn wenn, wie einige sehr beredte und scharfsinnige Männer sehen und aussprechen konnten, das, was durch die sogenannte Redekunst erlernt wird, nur deshalb beobachtet, aufgezeichnet und in diese Wissenschaft (der Rhetorik) aufgenommen werden konnte, weil es sich eben tatsächlich in den Geisteserzeugnissen der Redner vorfindet, so ist es doch nicht verwunderlich, daß es sich auch bei den Schriftstellern vorfindet, die der Schöpfer des Verstandes gesendet hat. Darum wollen wir es offen aussprechen, daß unsere kanonischen Autoren und Lehrer nicht bloß weise, sondern auch beredt sind, beredt freilich nach einer Art von Beredsamkeit, die solchen Männern geziemt.
