12. Kapitel : Von der dreifachen Aufgabe des Redners, zu belehren, zu ergötzen und zu rühren
27. Ein beredter Mann1 also hat die wahren Worte gesprochen, der Redner müsse so sprechen, daß er S. 185belehre, ergötze und rühre. Er fügt dann bei: „Das Belehren ist notwendige Voraussetzung, das Ergötzen macht die Rede angenehm, die Kunst des Rührens endlich verschafft den Sieg.“ Die an erster Stelle geforderte Voraussetzung, nämlich die Notwendigkeit des Belehrens, liegt in dem Stoff unserer Rede selbst; die beiden anderen aber in der Art, wie wir reden. Wer also zum Zwecke der Belehrung spricht, der nehme, solange er nicht verstanden wird, an, er habe zu seinem Schüler überhaupt noch nicht gesagt, was er beabsichtigt. Denn wenn er auch gesagt hat, was er selbst versteht, so darf er doch nicht glauben, er habe es nun auch schon dem gesagt, von dem er nicht verstanden worden ist. Ist er aber einmal wirklich verstanden worden, so ist die Mitteilung tatsächlich erfolgt, ganz gleich, in welcher Weise er nun gesprochen hat. Kommt es ihm aber auch noch darauf an, seine Zuhörer zu ergötzen oder zu rühren, so wird er dieses Ziel nicht durch die nächstbeste Ausdrucksweise erreichen, sondern es hängt sehr viel davon ab, wie er spricht, um zu seinem Ziel zu gelangen. Wie man aber den Zuhörer ergötzen muß, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln, so muß man ihn anderseits rühren, um ihn zum Handeln zu bestimmen. Und zwar wird der Zuhörer ergötzt, wenn du mit Anmut sprichst, und er wird gerührt, wenn er liebt, was du versprichst, fürchtet, was du androhst, haßt, was du anklagst; wenn er gerne tut, was du empfiehlst, wenn er das bedauert, was du bedauernswert nennst, wenn er sich darüber freut, was du freudig anpreisest, wenn er sich derer erbarmt, die du ihm durch deine Rede als erbarmungswürdig darstellst, und wenn er vor jenen flieht, vor denen du ihn durch Schreckensworte warnst. Dies und noch manches andere kann durch eine bedeutsame Beredsamkeit zur seelischen Ergreifung der Zuhörer geschehen. Es besteht dabei weniger die Absicht, ihnen erst mitzuteilen, was sie tun sollen, als vielmehr sie zu bestimmen, die schon erkannte Pflicht zu erfüllen.
28. Kennen sie aber ihre Pflicht noch nicht, so kommt es natürlich zuerst darauf an, sie erst einmal darüber zu belehren, bevor man sie rühren will. S. 186Vielleicht sind sie dann, wenn sie einmal die notwendige Sachkenntnis besitzen, schon so gerührt, daß hiezu größere Kräfte der Beredsamkeit gar nicht mehr in Bewegung gesetzt werden müssen. Im Falle der Notwendigkeit hat es indessen zu geschehen, und dieser Fall tritt dann ein, wenn sie trotz der Kenntnis ihrer Pflicht sie nicht erfüllen wollen. Darum ist es durchaus notwendig, daß eine Belehrung stattfindet. Denn nur was die Menschen wissen, das können sie tun oder lassen; wer möchte aber behaupten, sie seien verpflichtet etwas zu tun, was sie nicht kennen? Darum ist es auch andererseits nicht durchaus notwendig, eine Rührung hervorzurufen; denn das braucht es dann nicht mehr, wenn der Zuhörer schon der Belehrung oder auch bloß der Ergötzung zustimmt. Den endgültigen Sieg aber entscheidet die Rührung, weil ja der Mensch trotz Belehrung und Ergötzung seine Zustimmung verweigern kann. Was helfen aber dann Belehrung und Ergötzung, wenn die Zustimmung fehlt? Aber auch die Ergötzung ist nicht etwas durchaus Notwendiges; denn wenn gemäß der Aufgabe der Belehrung die Wahrheit durch das Reden nachgewiesen wird, so hat die Rede doch nicht den Zweck und die Absicht, daß die Wahrheit oder die Rede selbst ergötze, sondern die geoffenbarte Wahrheit ergötzt an und für sich, eben weil sie wahr ist. Darum ergötzen gar oft selbst falsche Behauptungen, wenn sie als solche nachgewiesen und widerlegt worden sind. Sie ergötzen nämlich nicht deshalb, weil sie falsch sind, sondern weil es wahr ist, daß sie falsch sind; und es ergötzt auch die Rede, durch die dieser Nachweis geliefert wurde.
Cicero: „Orator“ 69. ↩
