27. Kapitel: Das praktische Leben des Redners muß seinen theoretischen Forderungen entsprechen
59. Um aber gehorsamen Herzens angehört zu werden, hat das praktische Leben des Redners größeres Gewicht als jegliche Erhabenheit des Ausdrucks. Denn wer zwar beredt und weise redet, dabei aber ein schlechtes Leben führt, der unterrichtet zwar viele Lernbegierige, aber er schafft damit seiner eigenen Seele keinen Nutzen, wie geschrieben steht1. Darum sprach auch der Apostel: „Wenn nur, es sei aus Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündet wird2.“ Christus ist aber die Wahrheit, und doch kann auch die Wahrheit mit Unwahrheit verkündet, das heißt mit einem verkehrten und falschen Herzen das Rechte und Wahre verkündet werden. So wird aber Jesus Christus von denen verkündet, die das Ihrige suchen, aber nicht was Jesu Christi ist. Weil jedoch die guten Gläubigen nicht jeden beliebigen Menschen gläubigen Herzens anhören wollen, sondern den Herrn selbst, der gesprochen hat: „Was sie sagen, das tuet; was sie aber tun, das tut nicht! Denn sie sagen es zwar wohl, tun es aber nicht3“, so werden selbst solche Leute mit Nutzen angehört, die nicht zu ihrem Nutzen handeln. Sie suchen zwar das Ihrige zu erjagen, aber sie wagen es nicht, das Ihrige zu lehren, wenigstens nicht von dem erhöhten Ort des kirchlichen Stuhles aus, den die gesunde Lehre aufgestellt hat. Bevor also der Herr von solchen Leuten die erwähnten S. 221Worte sprach, schickte er die Worte voraus: „Auf dem Lehrstuhl des Moses sitzen …“ Jener Lehrstuhl, der nicht ihnen, sondern dem Moses gehörte, zwang auch Übeltäter Gutes zu reden. In ihrem Leben führten sie wohl ihren schlechten Wandel; dieses (schlechte) Leben aber auch zu lehren, daran hinderte sie der ihnen nicht gehörige Lehrstuhl.
60. Solche Leute nützen also dadurch, daß sie das lehren, was sie selbst nicht tun; sie würden aber noch weit mehr Menschen nützen, wenn sie selber das auch täten, was sie sagen. Denn es gibt tatsächlich sehr viele Leute, die ihr eigenes schlechtes Leben mit dem Beispiel ihrer Vorgesetzten und Lehrer zu verteidigen suchen. Im Herzen, oder wenn sie herausplatzen, auch mit dem Munde, antworten sie und sagen: „Warum tust du selber das nicht, was du mir vorschreibst?“ Daher kommt es dann, daß sie den, der sich selbst nicht hört, auch nicht mit gehorsamem Herzen hören und zugleich mit dem Prediger auch das verkündete Wort Gottes verachten. Als darum der Apostel in seinem Brief an Timotheus gesagt hatte: „Niemand soll deine Jugend verachten!“, da fügte er auch den Weg bei, um der Verachtung zu entgehen mit den Worten: „Aber du selbst sei das Vorbild der Gläubigen in deiner Rede, deinem Wandel, deiner Liebe, deinem Glauben und in deiner Keuschheit4!“
