29. Kapitel: Von der Benützung fremder Predigten
62. Es gibt Leute, die zwar einen guten Vortrag haben, die aber nicht imstande sind, den Stoff ihres Vortrages selber auszuarbeiten. Wenn nun solche etwas hernehmen, was von anderen weise und beredt geschrieben worden ist, dieses dann auswendig lernen und dem Volke vortragen, so handeln sie nicht ruchlos, wenn sie diese Rolle spielen. Denn wenn alle nach der Ansicht eines einzigen Lehrers sprechen und keine Spaltung unter ihnen herrscht, so erstehen der Wahrheit zum unbestreitbaren Nutzen zwar nicht viele Lehrer, aber viele Verkünder. Man braucht sich dabei auch nicht durch einen Ausspruch des Jeremias abschrecken lassen; durch diesen Propheten tadelt Gott nämlich jene, „welche die Worte stehlen voneinander1“. Wer nämlich stiehlt, der nimmt fremdes Eigentum; das Wort Gottes ist aber für diejenigen, die es befolgen, kein fremdes Eigentum; eher spricht noch derjenige etwas, was nicht ihm gehört, der böse lebt, obwohl er gut spricht. Denn was er Gutes sagt, das scheint wohl von seinem Verstand erdacht zu sein, ist aber seinen Sitten fremd. Daher nannte Gott jene Leute Diebe seiner Worte, die dadurch, daß sie Gottes Sache reden, gut scheinen wollen, während sie doch dadurch, daß sie nur das Ihrige tun, böse sind. Wenn man nämlich der Sache auf den Grund sieht, so sind nicht sie selbst es, die da Gutes reden: wie könnten sie denn sonst in ihren S. 224Werken das verleugnen, was sie mit ihren Worten behaupten? Darum hat der Apostel von solchen Leuten nicht umsonst gesagt: „Sie sagen zwar, sie kennen Gott, verleugnen ihn aber mit ihren Werken2.“ Im gewissen Sinn sind sie es ja wohl selbst, die da reden, im gewissen Sinn sind sie es wieder nicht: über beides äußert sich die Wahrheit. Denn einerseits sagt sie von solchen Menschen: „Was sie sagen, das tut; was sie aber tun, das tut nicht3!“ Das will sagen: Was ihr aus ihrem Munde hört, das tut; was ihr aber in ihren Werken sehet, das tut nicht! „Denn“, setzt sie bei, „sie sagen es zwar, tun es aber nicht.“ Wenn sie es also auch nicht tun, so sagen sie es doch. Andererseits aber beschuldigt die Wahrheit diese Leute an einer anderen Stelle, indem sie sagt: „Heuchler, wie könnt ihr Gutes reden, da ihr doch böse seid4?“ Auch wenn sie also Gutes sprechen, so reden sie das nicht in eigener Person, da sie ja durch ihre Gesinnung und ihre Werke ihre Worte verleugnen. Wenn infolgedessen ein beredter, aber böser Mensch eine Predigt in Wahrheit zum Vortragen für einen zwar nicht beredten, aber guten Mann, auch persönlich verfaßt, so gibt er damit doch etwas her, was nicht sein Eigentum ist, während der Gute die Predigt (gleichsam) von einem Fremden empfängt, als wäre sie sein persönliches Eigentum. Wenn aber gute Gläubige diesen Dienst wieder anderen guten Gläubigen erweisen, so sprechen beide etwas, was ihnen zu eigen ist: denn Gott ist ja ihr Eigentum, dem ihre Worte gehören, und jene, die diese Worte zwar nicht selbst verfassen konnten, machen sie doch dadurch zu ihrem Eigentum, daß sie in aller Form darnach leben.
