26. Kapitel: Es gibt ein positives Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten und sogar zu sich selbst
27. Es braucht also kein eigenes Gebot dafür, daß jeder sich und seinen Leib liebe; denn unser eigenes Ich und das, was zwar unter uns steht, aber doch zu uns gehört (den Leib), das lieben wir schon nach dem unerschütterlichen Naturgesetz, das sogar auch für die Tiere erlassen ist, die ja ebenfalls sich und ihren Leib lieben. Es erübrigte daher nur, daß wir bezüglich dessen, was über uns steht (Gott), und dessen, was neben uns steht (die Mitmenschen), Gebot erhielten. Daher sagte nun der Herr: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüte; und deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten1.“ Ziel des ganzen Gesetzes ist demnach die Liebe, und zwar die doppelte zu Gott und zum Nächsten. Wenn man sich selbst nach seinem ganzen Wesen, das heißt nach Seele und Leib, begreift, und wenn man auch den Nächsten nach seinem ganzen Wesen, das heißt nach Seele und Leib, begreift — denn aus Seele und Leib besteht ja der Mensch — so ist in diesen beiden Geboten keine Art von Sachen übergangen, die geliebt werden sollen. Da nämlich die Liebe Gottes den Vorrang hat und die Art dieser Liebe klar in der Weise vorgeschrieben ist, daß alles andere in sie zusammenfließt, so scheint von der Eigenliebe nichts gesagt zu sein. Doch ist mit den Worten: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst!“ zugleich auch die Selbstliebe nicht übergangen.
Matth. 22, 37 ff. ↩
