9. Kapitel: Vom Schriftstudium
S. 6014. In all diesen Büchern suchen Menschen voll Gottesfurcht und sanfter Frömmigkeit den Willen Gottes zu erkennen. Bei dieser mühsamen Arbeit hat man, wie gesagt, zuerst darauf zu schauen, daß man diese Bücher, wenn auch nicht gerade ihrem (vollen) Sinn nach versteht, aber doch durch Lesen dem Gedächtnisse einprägt oder wenigstens nicht mehr ganz unbekannt mit ihnen ist. Sodann müssen alle in diesen Büchern klar niedergelegten Lehren, seien es nun Sittenvorschriften oder Glaubenslehren, besonders sorgfältig und fleißig erforscht werden. Solche Lehren wird einer natürlich um so mehr finden, je umfassender seine Verstandeskraft ist. In den klar ausgesprochenen Stellen der Heiligen Schrift findet man alle Lehren, die sich auf Glaubens- und Sittenlehre, nämlich auf die Hoffnung und die Liebe, beziehen, von welchen Tugenden wir im vorigen Buch gehandelt haben. Hat man einmal eine gewisse Vertrautheit mit der Sprache der göttlichen Schriften gewonnen, so hat sich das weitere Streben darauf zu richten, dunkle Stellen zu eröffnen und zu beleuchten. Zum Zwecke der Beleuchtung dunkler Redensarten sollen Belege von Stellen genommen werden, die einem klarer sind, und gewisse Zeugnisse von bestimmt lautenden Sätzen sollen Zweifel über unbestimmte Sätze entfernen. Dabei leistet ein gutes Gedächtnis die besten Dienste; mangelt ein solches, so kann es auch durch meine Vorschriften nicht gegeben werden.
