12. Kapitel: Voneinander verschiedene, wenn auch nicht gerade falsche Übersetzungen des Urtextes sind nicht ohne Wert
17. Diese Verschiedenheit der Übersetzungen verhilft jedoch mehr zum Verständnis, als sie es verhindert: wenn nur der Leser nicht nachlässig ist. Denn die Einsichtnahme mehrerer Handschriften hat schon oft dunkle Aussprüche erklärt. So hat z. B. ein Übersetzer die bekannte Stelle des Propheten Isaias1 folgendermaßen wiedergegeben: „Und verachte nicht die Hausgenossen deines Samens!“; ein anderer sagt dagegen: „Und verachte dein Fleisch nicht2!“ Da bezeugen sich die beiden Übersetzer gegenseitig; denn einer erklärt den andern. Man könnte nämlich das Wort „Fleisch“ im eigentlichen Sinn nehmen und meinen, man sei damit S. 63aufgefordert, seinen eigenen Leib nicht zu verachten; ebenso könnte man andrerseits im übertragenen Sinn unter „Hausgenossen deines Samens“ die Christen verstehen, da sie geistigerweise aus demselben Samen des Wortes geboren wurden wie wir. Vergleicht man jedoch den Sinn der Übersetzer, so kommt man auf die wahrscheinlichere Meinung, es sei im eigentlichen Sinn geboten, seine Blutsverwandten nicht zu verachten; denn an die Blutsverwandten denken wir vorzugsweise, wenn wir den Ausdruck „Hausgenossen des Samens“ mit dem Ausdruck „Fleisch“ vergleichen. Im gleichen Sinn sagt wohl auch der Apostel: „(Ich will darauf schauen,) ob ich nicht auf irgendeine Weise mein Fleisch zur Nacheiferung reizen und so einige von ihnen selig machen kann3.“ Das will sagen, ob sie nicht vielleicht durch Nachahmung derer, die schon zum Glauben gelangt sind, selbst zum Glauben kommen; sein Fleisch nannte nämlich der Apostel die Juden wegen seiner Blutsverwandtschaft mit ihnen. — Auch den Ausspruch des Propheten Isaias: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht zur Einsicht kommen4“, hat einer anders übersetzt: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht bleiben.“ Nur wenn einer den Text der Ursprache nachliest, kann er sicher feststellen, welcher von den beiden Übersetzern wortgetreu übersetzt hat. Doch wird verständigen Lesern aus den verschiedenen Übersetzungen großer Nutzen zuteil. Denn es ist kaum möglich, daß mehrere Übersetzer so vollständig voneinander abweichen, daß sie sich nicht irgendwie berühren. (So ist es auch bei unserer Stelle:) Die Erkenntnis durch Schauen ist ewig; der Glaube aber nährt die Kinder in der Wiege der zeitlichen Dinge gleichsam mit Milch. Jetzt wandeln wir daher im Glauben, noch nicht im Schauen; wenn wir aber nicht im Glauben wandeln, so werden wir nicht zum Schauen gelangen können. Dieses Schauen geht aber nicht mehr vorüber, sondern bleibt dank des dann rein gewordenen Verstandes in uns, die wir mit der Wahrheit innig zusammenhängen. Darum sagt der eine Übersetzer: „Wenn ihr nicht glaubt, so werdet ihr nicht bleiben“, während der andere übersetzt: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht S. 64zur Einsicht kommen.“
18. Kennt ein Übersetzer den Sinn eines Wortes nicht recht genau, so wird er durch zweideutige Wörter der Ursprache häufig irregeführt; er nimmt dann nämlich eine solche Bedeutung in seine Übersetzung auf, die dem wahren Sinn des Schriftstellers durchaus fremd ist. So haben z. B. einige Handschriften: „Scharf sind ihre Füße Blut zu vergießen5.“ Das griechische ὀξύς heißt nämlich „scharf“, aber auch „schnell“. Derjenige Übersetzer, der übertrug: „Schnell sind ihre Füße Blut zu vergießen“, hat darum den wahren Sinn getroffen; der erste Übersetzer aber wurde durch ein doppeldeutiges Wort nach der falschen Seite hin in einen Irrtum gezogen. Solche Stellen sind dann nicht dunkel, sondern förmlich falsch, und ihnen gegenüber hat man sich darum ganz anders zu verhalten. Denn solche Handschriften sollten nicht verstanden, sondern verbessert werden. — Da gibt es noch einen gleichen Fall: weil μοσός im Griechischen „Kalb“ heißt, merkten einige nicht, daß „μοσχεύματα“ soviel heißt wie „Sprößling“, sondern übersetzten es mit „junge Kälber“, Dieser Irrtum hat so viele Handschriften erfaßt, daß man kaum eine andere Leseart findet; und doch ist der Sinn ganz klar, wie man aus dem folgenden sieht: Man sagt doch viel passender: „Ehebrecherische Sprößlinge schlagen keine tiefen Wurzeln6“, als: „Junge Kälber schlagen keine tiefen Wurzeln“. Denn die jungen Kälber gehen mit ihren Füßen auf dem Erdboden und sind nicht an Wurzeln angewachsen. Daß unsere Übersetzung jener Stelle die richtige ist, dafür bürgt auch der umgebende Text.
