2. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auffassung einer Schriftstelle können durch die Wortabteilung des Textes entstehen
2. Wenn aber ein Wort selbst die Zweideutigkeit der Heiligen Schrift verursacht, so hat man zuerst darauf zu sehen, daß wir die Wörter nicht schon (in der Handschrift) falsch abteilen oder falsch betonen. Wenn man aber sieht, daß es trotz des besten Willens nicht zu entscheiden ist, wie man die Wörter abteilen oder wie man sie betonen soll, dann befrage man die Glaubensregel, die man aus Stellen gezogen hat, die deutlicher sind (als die vorliegende dunkle Stelle), und die uns die Lehrautorität der Kirche zur Verfügung stellt. Davon haben wir schon ausführlich genug gehandelt, als wir im ersten Buch von den Sachen sprachen. Wenn nun beide oder bei mehreren Satzgliedern alle Sinne selbst bei Beiziehung der Glaubensregel noch zweideutig lauten, dann bleibt nur noch übrig, den Textzusammenhang selbst zu befragen, und zwar sowohl in den Teilen, die der in der Mitte liegenden Zweideutigkeit vorausliegen, als in denen, die ihr nachfolgen; dann wird man schon sehen, welchen der verschiedenen Sinne, die möglich sind, der Zusammenhang begünstigt und mit sich vereinigen läßt.
3. Nur ein Beispiel: Die bekannte häretische Wortabteilung: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war1“, (die zu dem Zweck vorgenommen wurde), damit sich als anderer Sinn ergebe: „Dieses Wort war im Anfang bei Gott2“, will verhüten, daß (durch diese Stelle) das Wort als Gott anerkannt S. 111werde. Dieser Irrtum muß aus der Glaubensregel widerlegt werden. Nach dieser Glaubensregel nun müssen wir bezüglich der Gleichheit in der Dreifaltigkeit so sagen: „Und Gott war das Wort.“ Daran dürfen wir dann fügen: „Dieses war im Anfang bei Gott3).“
4. Eine andere zweideutige Wortabteilung, die aber nach keiner Seite hin dem Glauben widerstrebt und die daher nach dem Textzusammenhang selbst beurteilt werden muß, haben wir im folgenden Ausspruche des Apostels: „Ich weiß wahrlich nicht, was ich vorziehen soll. Ich fühle mich gedrängt in doppelter Hinsicht. Ich wünsche nämlich aufgelöst und mit Christus vereinigt zu werden; denn das ist bei weitem das Beste (für mich). Aber auch daß ich noch im Fleische verweile (und meine apostolische Arbeit fortsetze), das ist notwendig wegen euch4.“ Da ist es nun ungewiß, ob die Worte so abzutrennen sind: „In doppelter Hinsicht wünsche ich …“ oder: „Ich fühle mich gedrängt in doppelter Hinsicht“, so daß es (im letzteren Falle) weiter heißen würde: „Ich wünsche nämlich aufgelöst und mit Christus vereinigt zu werden.“ Weil aber der Text weiter lautet: „Denn das ist bei weitem das Beste“, so meint er offenbar, er wünsche dieses Beste, so daß also für ihn, obwohl er sich in doppelter Hinsicht gedrängt fühlt, doch nur bezüglich des einen, nämlich bei Christus zu sein, ein Verlangen, bezüglich des anderen aber, nämlich im Fleische zu bleiben, nur eine Notwendigkeit besteht. Diese Zweideutigkeit wird durch ein einziges nachfolgendes Wort, durch „denn“ richtig entschieden. Solche Übersetzer, welche diese Partikel ausließen, wurden von der Ansicht geleitet, als scheine er sich nicht bloß in doppelter Hinsicht gedrängt zu fühlen, sondern als scheine er auch in doppelter Hinsicht zu wünschen. Die Stelle ist also (richtig) so abzuteilen: „Ich weiß wahrlich nicht, was ich vorziehen soll. Ich fühle mich gedrängt in doppelter Hinsicht.“ Hier folgt dann die Satzpause, worauf es weiter heißt: „Ich wünsche S. 112nämlich aufgelöst und mit Christus vereinigt zu werden.“ Und gleichsam als würde die Frage gestellt, warum er denn darnach mehr Verlangen habe, sagt er weiter: „Denn das ist bei weitem das Beste.“ Warum fühlt er sich dann in doppelter Hinsicht gedrängt? Weil eben auch noch die Notwendigkeit für ihn besteht, noch weiter zu verweilen. Dies drückt er so aus: „Aber auch daß ich noch im Fleische verweile, das ist notwendig wegen euch.“
5. Wo aber die Zweideutigkeit weder durch eine Glaubensvorschrift noch durch den textlichen Zusammenhang erklärt werden kann, da steht nichts im Wege, die Abteilung nach jeder der möglichen Ansichten vorzunehmen. So verhält es sich z. B. mit den Worten (des Apostels Paulus) an die Korinther: „Da wir nun solche Verheißungen haben, so müssen wir uns rein halten von aller sündhaften Befleckung des Leibes und des Geistes, Heiligung vollendend in der Furcht Gottes. Schließet uns ein in euer Herz! Niemandem haben wir geschadet5.“ Hier ist zweifelhaft, ob man die Worte so verbinden muß: „… so müssen wir uns rein halten von aller sündhaften Befleckung des Leibes und des Geistes“, so wie es der Fall ist bei der Stelle: „… auf daß (die unverheiratete Jungfrau) heilig sei dem Leibe und dem Geiste nach6“, oder so: „… so müssen wir uns rein halten von aller sündhaften Befleckung des Leibes.“ In letzterem Falle würde sich der Sinn ergeben: „und die Heiligung des Geistes vollendend in der Furcht Gottes. Schließet uns ein in euer Herz!“ Die Entscheidung über derlei zweideutige Abteilungen ist dem Belieben der Leser anheimgestellt.
