10. Kap. Verteidigung der montanistischen Praxis hinsichtlich der sogenannten Stationsfasten.
In gleicher Weise klagen die Gegner unsere Stationsfasten der Neuerung an, weil sie anbefohlen werden und manchmal bestimmt werde, sie bis auf den späten Abend auszudehnen, und sie behaupten, man müsse diese Obliegenheit nach freiem Ermessen vollziehen und nicht über drei Uhr nachmittags fortsetzen, natürlich ihrer Gewohnheit entsprechend. Allein, was die Frage in Betreff des Anbefohlenwerdens angeht, so werde ich alle Punkte mit einer Antwort erledigen.
Für jetzt spreche ich nur mit Rücksicht auf einen speziellen Punkt dieser Sache, über das Zeitmaß, und muß vorab an sie selbst die dringliche Frage richten, auf welche Gründe hin sie die Methode, um drei Uhr die Stationsfasten abzubrechen, vorschreiben. Wenn sie es tun, weil Petrus und seine Gefährten, wie geschrieben steht, zur neunten Gebetsstunde1 in den Tempel gingen, so frage ich, wer beweist mir denn, daß sie an jenem Tage ein Stationsfasten gehalten haben, und daß man diese Stunde für den Schluß und die Beendigung des Stationsfastens ansehen müsse? Umgekehrt, man könnte eher finden2, daß Petrus um zwölf Uhr in das Obergemach hinaufging, um Speise zu sich zu nehmen, erst aber um zu beten, und könnte darum mit größerem Rechte die Mittagsstunde als Schlußstunde für diese Übung festsetzen, welche anscheinend dieselbe nach dem Gebet zum Abschluß bringen sollte. Ferner wird in derselben S. 540Schrift des Lukas3 auf die dritte Gebetsstunde hingewiesen, in welcher die mit dem Hl. Geiste Ausgerüsteten für betrunken gehalten wurden, und auf die sechste, in welcher Petrus in das Obergemach stieg, sowie auf die neunte, zu welcher Zeit sie den Tempel betraten, - warum sollten wir da nicht schließen, daß, unbeschadet der unbeschränkten Freiheit, immer und überall zu beten, doch diese drei, im gewöhnlichen Leben schon ausgezeichneten Stunden, welche die Einteilung des Tages bilden, nach welchen sich die Geschäfte verteilen, und die öffentlich ausgerufen werden, auch für das Gebet zu Gott besonders in Gebrauch gewesen seien? Das legt auch das Beispiel Daniels nahe, der dreimal am Tage betete, natürlich unter Bevorzugung gewisser Stunden, die aber keine anderen waren, als gerade die vornehmsten Tagesstunden, die dann später die Apostel einhielten, der dritten nämlich, der sechsten und der neunten. Daher würde ich vielmehr sagen, Petrus habe nach altem Herkommen die neunte Stunde festgehalten, indem er zum dritten Male betete, in Beobachtung der letzten Gebetspflicht.
Dieses sage ich um derentwillen, welche glauben, nach der Norm Petri zu verfahren, die sie doch nicht kennen, nicht als wollten wir die neunte Stunde verwerfen, die wir sowohl am Mittwoch als am Freitag sehr oft innehalten, sondern weil wir für die Gebräuche, welche infolge einer Tradition beobachtet werden, dann um so mehr einen würdigen Grund anführen müssen, wenn sie der Autorität der Hl. Schrift entbehren, bis sie durch irgendein himmlisches Charisma entweder ihre Bestätigung oder ihre Berichtigung finden. „Wenn ihr es etwa nicht wisset“, heißt es, „so wird Gott es euch offenbaren“4. Wenn man also auch den Paraklet, den Einführer in die gesamte Wahrheit, der alle diese Dinge5 S. 541bestätigt, beiseite läßt, so erwäge man doch, ob wir nicht einen angemesseneren Grund für Beobachtung der neunten Stunde vorbringen, einen Grund, den man auch dem Petrus wird beilegen dürfen, wenn er damals ein Stationsfasten gehalten hat. Dieser Grund ist nämlich herzunehmen vom Tode des Herrn; wenn man desselben auch zu jeder Zeit eingedenk sein soll ohne Unterschied der Stunden, so werden wir doch zu dieser Stunde, entsprechend dem Worte „Station“, selbst nachdrücklicher auf ihn hingewiesen. Die Soldaten, die niemals ihres Fahneneides vergessen, gehorchen auf Wachtposten oder Stationen noch besser. Daher ist die Kasteiung bis zu der Stunde fortzusetzen, in welcher der von der sechsten Stunde an verfinsterte Erdkreis seinem verstorbenen Herrn gegenüber seine Trauerpflicht erfüllte, und wir kehren zu derselben Zeit zur Fröhlichkeit zurück, wo auch die Welt das Licht wieder erhielt. Wofern dies besser zu den christlichen Religionsgebräuchen paßt, da es mehr zur Verherrlichung Christi dient, kann ich aus demselben, im Verlauf der Sache liegenden Grund ebensogut festsetzen, daß der Verlauf des Stationsfastens bis zu einer späteren Stunde fortdauere, so daß wir bis abends fasten, weil wir die Zeit des Begräbnisses des Herrn abwarten, jene Stunde, wo Joseph den erbetenen Leichnam abnahm und begrub. Daher ist es sogar unehrerbietig, wenn der Diener seinen Leib früher erquickt, als der des Herrn erquickt wurde.
So viel darüber; dieses wollte ich, durch die Beweisführung der Gegner herausgefordert, gegenüberstellen, Vermutungen durch Vermutungen zurückweisend, und zwar sind, wie ich glaube, die meinigen zuverlässiger. Sehen wir uns nun um, ob uns nicht aus dem Altertum Dinge ähnlicher Art zustatten kommen. War nicht im Buche Exodus die bekannte Haltung des Moses, der gegen Amalek durch Gebet bis zum Sonnenuntergang kämpfte, eine bis zum Abend fortdauernde Station? Glauben wir etwa, daß Jesus Nave, als er die Amorrhäer bekämpfte, an jenem Tage, da er sogar den S. 542Elementen Stillstand gebot, zu Mittag gespeist habe? „Es stand die Sonne still in Gabaon und der Mond in Ajalon, es standen die Sterne und der Mond in einer Station, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte, und es stand die Sonne mitten am Himmel. Als sie sich aber zum Untergange und zu Ende des Tages neigte, da war kein Tag so wie dieser, weder vorher oder nachher“, nämlich keiner so gefällig, daß Gott, wie es heißt, „auf die Stimme eines Menschen hörte“6, der, der Sonne gleichkommend, so lange im Dienste einer Station, die sogar über den Abend hinaus andauerte, ausharrte7. Sicher ist, daß Saul, ebenfalls im Kampfe befindlich, ganz offenbar dieselbe Leistung anbefahl: „Verflucht sei der Mann, der Brot ißt bis zum Abend, bis ich Rache genommen habe an meinem Feinde, und das ganze Volk genoß nichts“, und doch floß die ganze Gegend (von Honig)8. Gott legte dem Edikt in Betreff jenes Stationsfastens ein solches Ansehen bei, daß Jonathan, Sauls Sohn, obwohl er, von dem bis zum Abend gebotenen Fasten nichts wissend, ein wenig Honig genossen hatte, alsbald durch das Los9 seines Fehltritts überführt wurde und mit knapper Not durch S. 543die Fürbitte des Volkes von der Todesgefahr befreit wurde. Er war der Gaumenlust, wenn auch nur einer geringen, schuldig. Auch als Daniel im ersten Jahre des Königs Darius in Sack und Asche fastend vor Gott eine Exomologese hielt: „Siehe, da kam“, heißt es, „während ich noch mein Gebet sprach, der Mann, den ich zu Anfang im Traume gesehen hatte, schnell geflogen und näherte sich mir um die Stunde des Abendopfers“10, Das ist doch ein bis zur späten Stunde fortgesetztes Stationsfasten, das, das Fasten bis zum Abend ausdehnend, das Opfer des Gebetes vor Gott fruchtbringender macht.
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drei Uhr nachm. Apg. 3,1. ↩
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Ebd. 10,9. ↩
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Apg. 2,15. ↩
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Phil. 3,15. ↩
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nämlich, daß man die genannten Stunden Kraft des Herkommens besonders beobachten soll. So ist der Paraklet, wenn er auch die Sittenzucht zur Höhe führt, doch derjenige, der das Alte, auf apostolisches Herkommen Beruhende schützt, ein öfters von T. ausgesprochener Gedanke, bei dem er aber mit sich selbst in Widerspruch gerät, indem er einerseits die Disziplin des Parakleten als neu, andererseits als alt und apostolisch beweisen wollte. ↩
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Jos. 10,12 ff. ↩
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Die schwierige Lesart lautet: exaudiret deus hominem, parem scilicet solis, instantem tam diu in officio, stationem etiam sera longiorem. Der Sinn des „parem scilicet solis“ ist, daß Josue in der statio, ohne etwas gegessen zu haben, im Kampfe ausharrte, wie die Sonne in ihrer statio. Seine statio kam er Sonne gleich, und die statio der letzteren dauerte so lange, wie die seinige dauerte. Liest man stationem etiam sera longiorem, so wäre dies abhängig von instatem. Oehler wollte lesen: statione etiam sera longiorie. Vielleicht ist zu lesen in officio stationis etiam sera longioris. Die Konjektur „instatis“ statt „instatem“ ist abzulehnen. Denn der Gedanke T.’s ist, daß Gott den Josue erhörte, weil er ausharrte. ↩
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1 Kön. 14,24 ff. Der Zusatz et tota terra prandebat ist schwierig, weshalb Pamelius setzen wollte „non prandebant“. Aber T. bezieht sich auf 1 Kön. 14,25 f., wonach die Gegend von Honig floß. Vielleicht ist zu lesen manabat. Jedenfalls ist die Erklärung, die Oehler gibt: omnes prandebant in terra, unrichtig. ↩
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Es ist zu lesen sorte, nicht forte, wie die Wiener Ausgabe hat. Vgl. 1 Kön. 14,42. ↩
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Dan 9,21. ↩