6. Kap. Ein gefüllter Magen macht den Geist zu göttlichen Dingen unlustig, das Fasten hingegen macht ihn dafür empfänglich.
Jetzt wollen wir das allgemeine Bewußtsein darüber befragen, falls es ein unmotiviertes Verfahren von uns war, die Gründe, warum Kasteiungen in Speise und Trank von Gott gewollt und von uns um Gottes willen zu üben seien, in den beim Uranfang gemachten Erfahrungen zu suchen. - Die Natur selbst wird uns sagen, wie sie uns vor dem Genuß von Speise und Trank, so lange als die Zunge sozusagen noch jungfräulich ist, in Bezug auf jene Dinge hinzustellen pflegt, die nur mit dem Sinne vollführt werden dürfen, womit man das Göttliche behandelt: ob wir nicht viel kräftigeren Geistes, ob wir nicht viel lebhafteren Herzens sind, als dann, wenn das ganze Gebäude des inneren Menschen, mit Speisen vollgestopft und von Wein überschwemmt, mit der Bereitung der Auswurfstoffe sich abarbeitet und so zu einem Orte geworden ist, wo nur an die bevorstehenden Stuhlentleerungen gedacht wird, und es nichts gibt, was näher läge, als das Sinnen auf Lüsternheit. „Das Volk aß und trank und stand auf, um sich zu belustigen“1. Man berücksichtige bei diesen Worten die Ehrbarkeit der Hl. Schrift, die keine Belustigung getadelt haben würde als nur eine schamlose. S. 531
Wie wenige übrigens werden aber an Religion denken, wenn die Stätte des Erinnerungsvermögens in Beschlag genommen ist und die der Weisheit dienenden Glieder behindert sind!? Niemand wird, wie es sich gehört, gebührt und nützlich ist, Gottes eingedenk sein zu einer Zeit, wo es die Gewohnheit mit sich bringt, daß der Mensch sich selbst abhanden kommt. Essen und Trinken bringt der ganzen Sittenzucht Tod oder Wunden bei. Ich will ein Lügner sein, wenn nicht der Herr selbst, wo er Israel Gottvergessenheit vorwirft, der Völlerei die Schuld beimißt: „Der Liebling ward dick und ward fett und breit und verließ Gott, der ihn geschaffen hat, und fiel ab vom Herrn, seinem Heilande“2. So befiehlt er denn auch in demselben Buch Deuteronomium, diese Ursache zu meiden, und sagt: „Wenn du issest und trinkest und schöne Häuser bauest, bei der Vermehrung deiner Schafe und Rinder, deines Goldes und Silbers, soll sich dein Herz nicht überheben und du des Herrn deines Gottes nicht vergessen!“3 Er hat der Verderbnis durch den Reichtum noch die gewaltige Gier der Eßlust vorangestellt; ihr dienen selbst die Reichtümer. Durch sie nämlich war das Herz des Volkes verhärtet worden, so daß es mit den Augen nicht sah und mit den Ohren nicht hörte und mit dem Herzen, das von fetten Speisen umstrickt war, nicht dachte; er verbot deren Genuß4 mit Nennung der Namen, indem er den Menschen anleitete, nicht auf zu volle Nahrung bedacht zu sein.
Wessen Herz erschien dagegen weit mehr aufwärts gerichtet als durch Fett beschwert? Es war das Herz dessen5, der über die Kräfte der menschlichen Natur hinaus vierzig Tage und ebensoviel Nächte das Fasten fortsetzte, indem ihm der geistige Glaube die Kraft verlieh, der mit seinen Augen die Herrlichkeit Gottes sah, mit seinen Ohren die Stimme Gottes hörte und in seinem Herzen das Gesetz Gottes überdachte, welches schon damals lehrte, daß der Mensch nicht allein vom S. 532Brot lebe, sondern in jedem Worte Gottes6, während das besser genährte Volk selbst den Anblick des Moses, der von Gott selbst ernährt und dessen Hunger durch seinen Namen gestillt worden war, nicht andauernd zu ertragen vermochte. Verdienterweise also zeigte sich ihm der Herr auch im Fleische7, ihm, dem Genossen seiner Fasten, und ebenso auch dem Elias. Denn auch Elias hatte sich zuerst dadurch, daß er die Hungersnot herabrief, dem Fasten bereits hinlänglich geweiht. „So wahr der Herr lebt“, sagt er, „vor dessen Angesicht ich stehe, es wird kein Tau oder Regen fallen in diesen Jahren“8. Darauf, nach einer einzigen Mahlzeit und einem Trunk, den er, von einem Engel aufgeweckt, gefunden hatte, floh er vor den Drohungen der Jezabel und kam, nachdem vierzig Tage hindurch sein Magen leer und sein Mund trocken gewesen, zum Berge Horeb, wo er in einer Höhle einkehrte. Zu welchem freundschaftlichen Verkehr mit Gott wurde er da zugelassen! „Was tust du hier, Elias?“9 Klingt dieser Ruf nicht viel freundlicher als: „Adam, wo bist du?“ Dieser Ruf war dem Menschen, der gegessen hatte, eine Drohung, jener dem fastenden eine Schmeichelrede. So große Bevorzugung bewirkt der Abbruch an Speise und Trank; er macht den Menschen zu einem Hausgenossen Gottes, gesellt den Gleichen in Wahrheit dem Gleichen zu. Denn wenn der ewige Gott, wie er durch Isaias bezeugt, niemals hungert, dann wird die Zeit, wo der Mensch Gott gleich wird, die sein, wo er ohne Nahrung lebt.