4. Kap. Ob das Bestehen der christlichen Religion gegen die Staatsgesetze sei. Der Wert oder Unwert menschlicher Gesetze hängt von ihrer Zweckmäßigkeit und Moralität ab.
Nachdem ich somit dies, um die Ungerechtigkeit des öffentlichen Hasses gegen uns zu brandmarken, gleichsam als Vorrede vorausgeschickt habe, will ich nunmehr für unsere Unschuld den Beweis antreten, und zwar werde ich nicht bloß widerlegen, was uns vorgeworfen wird, sondern es auch auf die zurückschleudern, welche es uns vorwerfen, damit die Leute auch daraus erkennen, daß bei den Christen sich nicht findet, was sich bei ihnen selbst, nicht ohne ihr Wissen1, wirklich S. 50/396 findet, und damit sie zugleich darüber erröten, daß sie als ganz schlechte Menschen anklagen, ich will nicht sagen die besten, sondern ihresgleichen, wie sie es haben wollen. Wir werden im einzelnen auf das antworten, was wir im geheimen verüben sollen, und was man als offen verübt2 bei uns findet, worin wir für Verbrecher, und worin wir für Toren, worin wir für strafbare und worin wir für lächerliche Menschen gehalten werden.
Indessen, da der von uns vertretenen Wahrheit, weil sie allen Anklagen zu begegnen weiß, zuletzt die Autorität der Gesetze entgegen gehalten und entweder gesagt wird, nach Erlaß der Gesetze dürfe keine Verhandlung weiter statthaben, oder dem notwendigen Gehorsam müsse selbst wider Willen vor der Wahrheit der Vorzug eingeräumt werden, so will ich zuerst in Betreff der Gesetze mit euch, als ihren Schutzherrn, in den Streit eintreten3, Erstens, wenn ihr nach dem Recht4 S. 51/397 die Entscheidung fällt und sagt: „Es ist euch nicht erlaubt zu existieren“, und wenn ihr dies ohne jede weitere Untersuchung, die doch menschenwürdiger wäre, einfach als Präjudiz aufstellt, so proklamiert ihr die Gewalt und eine ungerechte Tyrannenherrschaft, wie von einer Zwingburg herunter, wenn ihr das „Erlaubtsein“ (unsere Existenzberechtigung) deshalb verneint, weil ihr es nicht wollt, nicht weil es (moralisch) nicht gestattet werden darf. Gesetzt aber, ihr wolltet es deshalb nicht gestatten, weil es nicht erlaubt werden dürfe, so unterliegt der Grundsatz keinem Zweifel, daß S. 52/398 nur das nicht erlaubt werden darf, was schlecht ist, und eben dadurch ist der Schluß auf die Erlaubtheit dessen, was gut ist, gestattet. Wenn ich finde, daß gut ist, was das Gesetz verboten hat, so kann es -- infolge des obigen Schlusses -- mich unmöglich daran hindern, woran es mich von Rechtswegen hindern würde, wenn es etwas Schlechtes wäre. Wenn dein Gesetz geirrt hat, so ist es, meine ich, von einem Menschen verfaßt; es ist ja doch nicht vom Himmel gefallen.
Wundert ihr euch etwa, daß ein Mensch bei Erlaß eines Gesetzes sich habe irren können, oder daß er, wieder zur richtigen Einsicht gekommen, es verworfen habe? Hat nicht die Verbesserung der Gesetze sogar des Lykurg, welche die Lazedämonier vornahmen, ihrem Urheber solchen Schmerz verursacht, daß er in freiwilliger Verbannung sich selbst zum Tothungern verurteilte? Durchwühlet und fället ihr denn nicht, da neue Erfahrungen täglich die Dunkelheiten des Altertums erleuchten, jenen ganzen alten und wuchernden Wald von Gesetzen mit den neuen Äxten kaiserlicher Re-skripte und Edikte? Hat nicht kürzlich der charakterfeste Kaiser Severus die nichtsnutzigen Papischen Gesetze, welche früher Kinder zu haben gebieten, als die Julischen Gesetze zu heiraten vorschreiben, nach so langer Geltung aufgehoben? Doch es war ja früher Gesetz, daß die Verurteilten5 von ihren Gläubigern in Stücke geschnitten wurden, und dennoch wurde später mit allgemeiner Zustimmung diese Grausamkeit abgeschafft und die Todesstrafe in eine Strafe der Infamie verwandelt. Der angewandte Zwangsverkauf der Güter wollte lieber einem Menschen das Blut ins Gesicht treiben, als es vergießen. Wie viele Gesetze, die ihr verbessern müßtet, sind auch jetzt noch unbemerkt vorhanden! Gesetzen nämlich dient weder die Zahl ihrer Jahre, noch die hohe Stellung ihrer Urheber zur Empfehlung, sondern allein die Billigkeit6. Daher werden sie, S. 53/399 sobald sie als ungerecht erkannt sind, mit Recht verurteilt, obwohl sie selbst verurteilen. -- Wie wir sie für ungerecht erklären können?! -- Sogar für einfältig, wenn sie nämlich einen bloßen Namen bestrafen; wofern aber Taten, so frage ich, warum bestrafen sie denn an uns auf Grund des bloßen Namens Taten, die sie an ändern nur dann ahnden, wenn sie als wirklich begangen erwiesen sind, nicht wenn sie auf Grund eines Namens als erwiesen angesehen werden? Bin ich ein Blutschänder, warum untersucht man es nicht? Bin ich ein Kindsmorder, warum foltert man mich nicht? Habe ich gegen die Götter oder gegen die Kaiser etwas verbrochen, warum hört man mich nicht an, obwohl ich mich zu verteidigen imstande bin? Kein Gesetz verwehrt, zu untersuchen, was es zu begehen verbietet, weil einerseits kein Richter gerechter Weise straft, wenn er noch nicht erkannt hat, daß etwas Unerlaubtes begangen worden sei, und andererseits kein Bürger dem Gesetze getreulich gehorcht, wenn er nicht weiß, von welcher Art das ist, was das Gesetz ahndet. Kein Gesetz schuldet sich allein das Bewußtsein von seiner Gerechtigkeit, sondern denen, von welchen es Gehorsam erwartet. Übrigens, ein Gesetz ist verdächtig, wenn es sich nicht prüfen lassen will; nichtswürdig aber ist es, wenn es, der Gerechtigkeit nicht würdig befunden7, tyrannisiert.
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Die Lesart in F quae in se non nesciunt (in P fehlt „non“) ist die richtige, wie die folgenden Kapitel beweisen. Auch die Stelle c. 9, 20 haec in vobis esse si consideraretis etc., die Heinze (3081) für die Lesart in P anführt, spricht nicht gegen F; vgl. auch ad nat. I, 10 (74/23) palam subiacet; I, 15 (85/13) tam impune tam secure, sub omnium conscientia ; I, 12 (86/11) tota caeli conscientia usw. vgl. auch Rauschen, 42 f. ↩
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Die Stelle enthält die Einteilung, c. 7-9 handeln von den Verbrechen, die die Christen im geheimen, c. 10-49 von denjenigen, die sie öffentlich begehen sollen, bzw. von solchen Anschauungen, die sie als Menschen erscheinen lassen, die ausgelacht zu werden verdienen. Die Lesart in F „quae palam adinveniuntur“ ist zweifellos die richtige und die in P „quae illos palam admittentes invenimus“ eine verderbte. Sie ist wahrscheinlich entstanden, weil man „adinveniuntur“ für falsch hielt und es in „admittentes invenimus“ glaubte umändern zu müssen, ähnlich wie man de idol. 16 „adsacrificii“ umänderte in „in sacrificiis“. -- Es ist übrigens eine volle Inkonsequenz, wenn Verteidiger des P-Textes „non“ vor nesciunt beanstanden, weil T. von der Annahme ausgehe, die Heiden wüßten nicht, daß solche Verbrechen-sich bei ihnen finden, und nichtsdestoweniger den wenige Zeilen später folgenden Text: quae illos palam admittentes invenimus durch dick und dünn verteidigen und sogar behaupten, er sei eine verbesserte, jede Zweideutigkeit wegräumende Fassung des Textes in F. ↩
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Vor Eintritt in die eigentliche Verteidigung bringt T. cap. 4 -- 6 die sog. praemunitio, eine Erörterung über die Rechtskraft der gegen die Christen ins Feld geführten Gesetze; vgl. Heinze 311 ff. ↩
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Nach der Lesart in F „iure“, die unstreitig den Vorzug verdient, denn a) es handelt sich um die „auctoritas legum“. Das Gesetz ist da und verlangt ausgeführt zu werden; b) „praescribitis“ steht im streng juristischen Sinne, setzt also „iure“ voraus; c) auch im folgenden hat F die richtigen Lesarten. -- „Dure“ (statt iure) in P ist entstanden, weil man den Satzteil „et hoc sine ullo retractatu humaniore praescribitis“ falsch verstand. Ketractatns heißt nicht „Bedenken“ und erst recht nicht „Umarbeitung“ oder „Verbesserung“. Ebensowenig ist an eine bald strengere oder mildere Praxis in der Anwendung der Gesetze gedacht. Über den. Sinn von retractare, retractatus vgl. Apol. 11; de praescr. haer. 7; de res. carn. 2 u.s.w. Um jeden Einwand abzuschneiden, zitiere ich die Stelle adv. Prax. 2, wo praescriptio und retractatus in demselben Gedankenzusammenhang wie hier gebraucht sind. „Sed salva ista praescriptione ubique tamen propter instructionem et munitionem quorundam dandus est etiam retractatibus locus, vel ne videatur unaquaeque perversitas non examinata sed praeiudicata damnari.“ „Praescribere“ heißt demnach an unserer Stelle: ein praeiudicium aufstellen, das jeden Rechtseinspruch niederschlägt und jede Verhandlung abschneidet. -- Auf die Frage, ob die Argumentation T.'s ein ausdrücklich gegen die Christen gerichtetes Gesetz voraussetzt, braucht, hier nicht eingegangen zu werden. Bemerkt sei aber, daß alle Folgerungen, welche man aus der falsch übersetzten und falsch gedeuteten Stelle gezogen hat, hinfällig sind. -- Im folgenden liest F richtig: „si ideo negatis licere, quia non vultis, non quia debuit non licere. Quodsi quia non debet licere, ideo noluistis …“ Der Sinn ist: Ihr wollt euch einfach auf den Rechtsboden stellen: Non licet esse vos. Aber tatsächlich ist euer Verbot des Christentums reine Tyrannei -- nolumus esse vos. Vergebens sucht ihr euch so zu stellen, als ob dem „nolumus“ ein Rechtsgrund, ein „debet non licere“ zu Grunde liege, denn alsdann müßtet ihr untersuchen. (Vgl. ad nat. I, 6.) Derselbe Gedanke wird am Schluß des Kapitels nochmals urgiert zum Beweise, daß das Verbot der Christenqualität reine Gewalt sei. Der Satz: nulla lex sibi soli conscientiam iustitiae suae debet bedeutet: Kein Gesetz ist schon deshalb ein gerechtes, weil es existiert. ↩
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Die verurteilten Schuldner oder Bankerotteure. ↩
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Es ist zu lesen: quot … leges! Quas … sola. Siehe Schrörs, 98 u. Rauschen 90, vgl. adv. Marc. I, 27 (328/23): Plane nec pater tuus est, in quem competat amor etc. Also ist er auch nicht dein Vater; einem Vater gegenüber gebührt sich Liebe usw. ↩
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Mit F ist zu lesen: ceterum suspecta lex est, si (nicht quae) probari se non vult, improba autem, si non probata dominatur (nicht dominetur). „non probata“ wird mit „ohne geprüft worden zu sein“ nicht richtig übersetzt. „Improba“ -- „non probata“ ist ein Wortspiel und „non probata“ ein Begriff = das die Prüfung nicht bestanden hat, als der Gerechtigkeit unwürdig, als ungerecht befunden wurde. ↩