11. Die Quellen, aus denen Plato die Einsicht gewinnen konnte, durch die er sich der christlichen Lehre annäherte.
Gar manche, die mit uns in der Gnade Christi verbunden sind, sind erstaunt, wenn sie hören oder lesen, daß Plato Anschauungen über Gott vertreten hat, deren vielfache Übereinstimmung mit der von unserer Religion vertretenen Wahrheit sie nicht verkennen können. Deshalb hat man wohl geglaubt, Plato habe auf seiner Reise nach Ägypten den Propheten Jeremias gehört oder damals die prophetischen Schriften gelesen; auch ich habe diese Ansicht in einige meiner Werke herübergenommen1. Wenn man jedoch der Zeitberechnung an der Hand der chronologisch geordneten Geschichte genau nachgeht, so zeigt sich, daß Plato erst beinahe hundert Jahre nach dem Auftreten des Jeremias geboren wurde; und da Plato ein Alter von 81 Jahren erreichte, so liegen ungefähr sechzig Jahre zwischen seinem Todesjahr und der Zeit, da König Ptolomäus von Ägypten die prophetischen Schriften des Hebräervolkes aus Judäa kommen und durch siebzig Juden, die auch der griechischen Sprache mächtig waren, verdolmetschen und sich verschaffen ließ2. Demnach konnte Plato bei seinem Band 1, S. 406Aufenthalt in Ägypten weder den Jeremias sehen, der schon lange vorher gestorben war, noch die prophetischen Schriften lesen, die noch nicht ins Griechische übertragen waren, daß er sie hätte verstehen können; wofern er nicht etwa bei seinem außerordentlichen Wissensdrang wie die ägyptische so auch die hebräische Literatur durch einen Dolmetsch kennen lernte, nicht in schriftlicher Übersetzung (was selbst dem Ptolomäus, den man ob seiner Machtfülle als König doch zu fürchten hatte, .nur als ein besonderes Entgegenkommen gewährt worden sein soll), sondern in mündlicher Besprechung über den Inhalt, um sich davon anzueignen, soviel er zu verstehen vermochte. Für diese Annahme scheint der Um-itand zu sprechen, daß das Buch der Genesis also anhebt: „Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde. Die Erde aber war unsichtbar und ungeordnet und Finsternis lag über dem Abgrund und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser“; und Plato im Timäus, einer Schrift über die Gründung der Welt, sagt, Gott habe bei diesem Werke zunächst Erde und Feuer miteinander verbunden. Es ist nun aber sicher, daß bei ihm das Feuer die Stelle des Himmels vertritt; also hat dieser Ausspruch Platos eine gewisse Ähnlichkeit mit dem andern: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Ferner bezeichnet er als Zwischenglieder zur Verbindung dieser beiden äußersten Elemente das Wasser und die Luft; das hört sich fast an wie eine Auslegung der Worte: „Der Geist Gottes schwebte über dem Wasser“. Er kann ja, nicht achtsam genug darauf, in welchem Sinne die heilige Schrift vom Geiste Gottes spricht, gemeint haben, es seien an dieser Stelle die vier Elemente erwähnt, umso leichter, als man auch die Luft als Hauch3 bezeichnet. Wenn sodann Plato den Philosophen definiert als den Gottsucher, so muß man doch sagen, daß nichts zweites so klar aus jenen heiligen Schriften hervorleuchtet; und namentlich auffallend ist (und dies bestimmt mich noch am meisten, zu der Ansicht hinzuneigen, daß er diese Schriften gekannt hat): Die Worte Gottes, die dem heiligen Moses durch einen Engel überbracht werden mit dem Auftrag, Band 1, S. 407sie als Antwort auf die Frage zu erwidern, welches der Name dessen sei, der ihn hingehen hieß, das hebräische Volk aus Ägypten zu befreien, nämlich4: „Ich bin, der ich bin, und du wirst zu den Söhnen Israels sagen: Der da ist, hat mich zu euch gesandt“, wie wenn im Vergleich zu ihm, der wahrhaft existiert, weil er unwandelbar ist, alles, was als wandelbar erschaffen worden ist, nicht existierte: diesen Gedanken hat Plato entschieden vertreten und nachdrücklichst betont. Ob sich wohl derartiges irgendwo in vorplatonischen Schriften findet außer eben an der Stelle, wo es heißt: „Ich bin, der ich bin, und du wirst zu ihnen sagen: Der da ist, hat mich zu euch gesandt“?