13. Die Fabeldichtungen, deren Entstehung in die erste Zeit der jüdischen Richterperiode fällt.
Nach dem Tode des Jesus Nave hatte das Volk Gottes Richter, und unter ihnen wechselten bei den Juden miteinander ab drangsalvolle Erniedrigungen zur Strafe für ihre Sünden und tröstlicher Aufschwung dank der Erbarmnis Gottes. Zu dieser Zeit erdichtete man eine Menge Fabeln: von Triptolemus, daß er auf Geheiß der Ceres, von geflügelten Schlangen getragen, den dürftigen Ländern im Fluge Getreide mitgeteilt habe; von Minotaurus, daß er ein Untier gewesen sei und sich in ein Labyrinth eingeschlossen habe, aus dessen unentwirrbaren Irrgängen1 die Menschen nicht mehr den Ausweg fanden, wenn sie einmal eingetreten waren; Band 28, S. 1064von den Zentauren, die die Natur von Pferden und Menschen in sich vereinigt hätten; von Cerberus, daß er der dreiköpfige Hund der Unterwelt; von Phrixus und seiner Schwester Helle, daß sie auf einem Widder reitend geflogen seien; von der Gorgo, daß sie Schlangenhaare gehabt und jeden, der sie ansah, in Stein verwandelt habe; von Bellerophon, daß er auf einem beschwingten und fliegenden Pferde, Pegasus genannt, geritten sei; von Amphion, daß er durch den Zauber seines Zitherspieles Steine erweicht und an sich gezogen habe; von dem kunstreichen Dädalus und seinem Sohn Icarus, daß sie mit Hilfe von geeigneten Schwingen geflogen seien; von Ödipus, daß er ein Ungeheuer, die Sphinx genannt, vierfüßig und mit einem Menschenantlitz, durch Lösung eines Rätsels, das sie als vermeintlich unauflöslich aufzugeben pflegte, zum Selbstmord durch Absturz gedrängt habe; von Antäus, den Herkules tötete, daß er der Sohn der Erde gewesen sei, weshalb er sich immer wieder mit verstärkten Kräften erhoben habe, so oft er zu Boden gefallen sei; und anderes mehr, wenn ich vielleicht etwas ausgelassen habe. Diese angeführten Fabeln wurden bis zum trojanischen Krieg, mit dem Varro das zweite Buch über die Abstammung des römischen Volkes schließt, im Anschluß an Erzählungen, die wirkliche Ereignisse zum Inhalt haben, vom Menschengeist erfunden, ohne daß damit eine Schmach der Gottheiten verquickt worden wäre. Daneben hat man aber Dinge erdichtet, wie den Lustraub des wunderhübschen Knaben Ganymed durch Jupiter, ein Verbrechen, das von König Tantalus begangen und von der Fabel dem Jupiter zugeschrieben wurde, oder Jupiters Vereinigung mit Danae im Goldregen, womit die Erkaufung der Keuschheit des Weibes um Geld gemeint ist; solches ist zu jener Zeit teils geschehen, teils erdichtet worden oder von anderen begangen und dem Jupiter angedichtet worden. Wie schlecht aber die Erfinder solcher Fabeln vom Menschenherzen dachten, daß sie ihm zutrauten, es werde solche Lügen geduldig hinnehmen, läßt sich mit Worten gar nicht ausdrücken. Und doch hat man sie hingenommen, und mit Inbrunst hingenommen! Man hätte doch, je andächtiger man Jupiter verehrte, um so Band 28, S. 1065strenger die strafen sollen, die solche Schandtaten über ihn zu sagen wagten. Aber nichts von dem! Man hat sich nicht ereifert wider diese Sorte Dichter, man hat sogar im Gegenteil den Zorn der Götter selbst befürchtet, wenn man solches Fabelzeug nicht auch auf die Schaubühne gebracht hätte. Um diese Zeit gebar Latona den Apollo, nicht den, dessen Bescheide man, wie oben erwähnt, zu erholen pflegte, sondern den, der neben Herkules bei Admetus im Dienste stand; freilich hat man auch diesen Apollo für einen Gott gehalten und ihn schließlich fast allgemein für eins erklärt mit dem delphischen Apollo. Damals hat ferner der Vater Liber in Indien Krieg geführt, und er hatte in seinem Heere viele Weiber, die man Bacchantinnen nannte, weniger durch Tapferkeit als durch ihre Raserei berühmt. Manche lassen übrigens den Liber gefangen und in Fesseln gelegt werden; wieder andere lassen ihn sogar in einer Schlacht durch die Hand des Perseus fallen und geben selbst sein Grab an; und gleichwohl wurde unter seinem Namen als dem eines Gottes durch die unreinen Dämonen der Gottesdienst oder vielmehr die Gottesschändung der Bacchanalien eingeführt, über deren rasende Schandbarkeit nach vielen, vielen Jahren endlich der Senat einen solchen Ekel empfand, daß er ihre Feier in Rom verbot. Um diese Zeit fing man an, Perseus und seine Gattin Andromeda nach ihrem Tode in der Weise in den Himmel aufgenommen sich vorzustellen, daß man nicht Scheu noch Furcht trug, Bilder von ihnen an Sterne zu knüpfen und diese nach ihrem Namen zu bezeichnen.
Verg. Aen. 6, 27. ↩
