27. Der Friede der Diener Gottes und seine Unvollkommenheit im irdischen Leben.
Band 28, S. 1212Aber der uns eigentümliche Friede ist der mit Gott, hienieden durch den Glauben, auf ewig durch das Schauen1. Hienieden jedoch ist unser Friede, und zwar sowohl der erwähnte gemeinsame wie auch der uns eigentümliche, von einer Art, daß er nicht so fast Freude in Glückseligkeit ist, als vielmehr Trost in Unseligkeit. Selbst auch unsere Gerechtigkeit ist, obwohl eine wahre im Hinblick auf das wahre Zielgut, auf das sie bezogen wird, doch hienieden so gering, daß sie mehr im Nachlaß der Sünden besteht als in Vollkommenheit der Tugenden. Zeuge dafür ist das Gebet des gesamten auf Erden pilgernden Gottesstaates. In all seinen Gliedern ja ruft er zu Gott2: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Und selbst dieses Gebet ist unwirksam für die, deren „Glaube ohne Werke“3 tot ist, und nur wirksam für die, deren Glaube sich durch Liebe betätigt4. Nötig haben nämlich ein solches Gebet die Gerechten deshalb, weil ihre Vernunft, wenn schon Gott Untertan, doch in diesem sterblichen Dasein und in einem vergänglichen Leibe, der die Seele daniederdrückt5, nicht vollkommen über die Leidenschaften herrscht. Denn wahrlich, ob sie sie zwar beherrscht, ohne Kampf beherrscht sie sie nicht; und gewiß, auch bei dem guten Kämpfer, auch bei dem, der die Herrschaft über diese Feinde errungen hat und sie überwunden und gefügig gemacht hat, schleicht sich auf diesem Schauplatz der Schwachheit nur zu leicht etwas ein, womit er, wenn nicht eine leichte Tatsünde, doch jedenfalls in raschem Wort oder in flüchtigem Gedanken eine Sünde begeht. Und so gibt es keinen vollkommenen Frieden, so lange man Leidenschaften zu beherrschen hat; denn entweder leisten sie noch Widerstand und lassen sich dann nur in gefährlichem Ringen niederkämpfen, oder sie sind bereits überwunden und müssen auch dann noch, weit entfernt, schon siegesgewisse Ruhe zu Band 28, S. 1213gestatten, durch sorgliche Beherrschung niedergehalten werden. Mitten in solchen Versuchungen, von denen es zusammenfassend und kurz in der Heiligen Schrift heißt6: „Ist nicht eine Versuchung das Menschenleben auf Erden?“, könnte nur ein hochtrabender Mensch, nicht ein wirklich großer, sondern ein aufgeblasener und stolzer, so zu leben sich anmaßen, daß er nicht nötig hätte, zu Gott zu rufen: „Vergib uns unsere Schulden“; einem solchen aber widersteht aus Gerechtigkeit der, der den Demütigen Gnade gewährt. In diesem Sinne heißt es7: „Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.“ Hienieden also besteht die Gerechtigkeit für jedermann darin, daß Gott über den in Gehorsam ergebenen Menschen, der Geist über den Leib, die Vernunft über die Leidenschaften gebiete trotz ihres Widerstrebens, indem sie sie unterwirft oder bekämpft, und daß man sich an Gott wendet mit der Bitte um die Gnade zu Verdiensten und um Verzeihung der Sünden und mit Danksagung für die empfangenen Güter. Dagegen in jenem endhaften Frieden, auf den diese Gerechtigkeit abzuzielen hat und um dessen Erlangung willen man sie besitzen muß, da wird die Vernunft nicht nötig haben, Leidenschaften zu gebieten; es gibt eben deren nicht mehr; denn die Natur, durch Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit genesen, wird keine Leidenschaften mehr haben, und nichts wird sich wider irgendeinen von uns zum Kampfe erheben, weder in uns noch von seiten eines anderen; vielmehr wird Gott über den Menschen und der Geist über den Leib gebieten, und das Gehorchen wird ebenso süß und leicht sein wie das Leben und Herrschen beglückend. Und das wird im Jenseits für alle und für jeden einzelnen ewig dauern, und dieser ewigen Dauer werden wir gewiß sein, und so wird der Friede dieser Glückseligkeit oder die Glückseligkeit dieses Friedens das höchste Gut sein.