2. Der unterschiedslosen Verteilung der menschlichen Lose liegt ohne Zweifel ein göttliches Gericht zugrunde, wenn man ihm auch nicht auf die Spur zu kommen vermag (Vgl. oben I 8; II 23.).
Bis dahin aber lernen wir mit Gleichmut Übel ertragen, die auch Gute zu erdulden haben, und kein großes Gewicht legen auf Güter, die auch den Bösen zuteil werden; und so ist auch da, wo Gottes Gerechtigkeit nicht in die Erscheinung tritt, Gottes Lehre heilsam. Es ist uns nämlich unbekannt, auf welchem Gottesgericht es beruht, wenn dieser Gute arm, jener Böse reich ist; wenn der eine, der nach unserer Meinung ob seiner Sittenverderbnis zehrender Trübsal überliefert sein Band 28, S. 1218sollte, in Freuden lebt, ein anderer, dem sein lobenswerter Wandel Freude verbürgen sollte, ein bekümmertes Dasein führt; wenn der Schuldlose vor Gericht nicht bloß keine Genugtuung erlangt, sondern auch noch Verurteilung davonträgt, ein Opfer richterlicher Ungerechtigkeit oder falscher Zeugenaussagen, und umgekehrt sein schuldbeladener Widerpart nicht nur ungestraft, sondern auch noch gerechtfertigt voll Hohn frohlockt; wenn der Gottlose sich strotzender Gesundheit erfreut und der Fromme in Krankheit und Schwäche dahinsiecht; wenn Erwachsene bei bester Gesundheit dem Räuberhandwerk nachgehen und Kinder, die niemand auch nur mit einem Wort etwas zuleide tun konnten, von verschiedenen schrecklichen Krankheiten heimgesucht werden; wenn Leute, die der menschlichen Gesellschaft von Nutzen wären, durch frühzeitigen Tod dahingerafft werden, und solche, die, möchte man glauben, besser gar nicht geboren wären, auch noch recht lange leben; wenn ein mit schwerer Schuld beladener Mensch zu hohen Ehren gelangt und der Mann ohne Tadel im Dunkel der Unbekanntheit verschwindet, und andere Fälle derart, wie es unzählige gibt. Fände sich wenigstens noch Beständigkeit in ihrem scheinbaren Widersinn, so daß im gegenwärtgen Leben, wo der Mensch, wie es im heiligen Psalme heißt1, „der Nichtigkeit ähnlich ist und seine Tage vorübergehen wie ein Schatten“, nur die Bösen diese vergänglichen und irdischen Güter erlangten und nur die Guten derlei Übel zu erdulden hätten, so könnte man das auf ein gerechtes oder auch gütiges Gericht Gottes zurückführen: wer die ewigen, allein beglückenden Güter nicht erlangen soll, würde dann durch die irdischen Güter gemäß seiner Schlechtigkeit verblendet und gemäß der Barmherzigkeit Gottes getröstet, und wer keine ewigen Peinen zu erdulden haben soll, würde durch zeitliche Übel für all seine und auch die geringsten Sünden heimgesucht und zur Vervollkommnung seiner Tugenden geprüft. So aber, da nicht ausschließlich die Guten im Schlimmen sitzen und die Schlimmen im Guten, was scheinbar ungerecht wäre, sondern im Gegenteil sehr Band 28, S. 1219häufig den Schlimmen Schlimmes widerfährt und den Guten Gutes zuteil wird, so werden die Gerichte Gottes noch unerforschlicher, seine Wege noch unaufspürbarer. Wir wissen schlechterdings nicht, nach welchem Gerichte Gott das tut oder zuläßt, bei dem sich doch die höchste Kraft, die höchste Weisheit, die höchste Gerechtigkeit findet und jede Schwäche, jede Unbedachtsamkeit, jede Unbilligkeit ausgeschlossen ist; aber gleichwohl lernen wir daraus zu unserem Heile, kein großes Gewicht zu legen auf Güter oder Übel, die ganz offensichtlich Guten und Bösen gemeinsam sind; wir lernen die Güter anzustreben, die ausschließlich den Guten, sowie die Übel vor allem zu meiden, die ausschließlich den Bösen eigentümlich sind. Wenn wir aber bei jenem Gerichte Gottes erscheinen werden, dessen Zeit in einem besonderen Sinne der Tag des Gerichtes und zuweilen der Tag des Herrn genannt wird, da wird offenbar werden, daß vollkommen gerecht sind nicht nur alle Urteile, die dann gefällt werden, sondern ebenso auch alle Gerichte, die von Anbeginn an ergangen sind und bis zu jener Zeit noch zu ergehen haben. Dabei wird auch kund werden, auf welch gerechtem Gottesgericht es beruht, daß hienieden so viele, ja fast alle gerechten Gottesgerichte der Erfahrung und Erkenntnis der Sterblichen verborgen bleiben, obwohl ja dem Auge des Glaubens die Gerechtigkeit des Verborgenen nicht verborgen ist.
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Ps. 143, 4. ↩