10. Kapitel. Ob nur die geliebte Kenntnis Wort ist.
15. Mit Recht stellt man also die Frage, ob jede Kenntnis Wort ist oder nur die geliebte Kenntnis. Wir kennen ja auch das, was wir hassen. Doch darf man, was uns mißfällt, weder im Geiste empfangen noch geboren nennen. Denn nicht alles, was irgendwie an uns rührt, wird empfangen. Vielmehr ist uns manches nur bekannt, ohne daß es Wort genannt werden kann, wie etwa die Dinge, über die wir jetzt handeln. In anderem Sinne nämlich spricht man von Wort bei jenen Worten, die mit ihren Silben einen bestimmten Zeitraum einnehmen, mögen sie ausgesprochen, mögen sie bloß vorgestellt werden; in anderem Sinne nennt man jede Kenntnis ein unserer Seele eingeprägtes Wort, solange sie aus dem Gedächtnis hervorgeholt und umgrenzt werden kann, wenngleich die gekannte Sache selbst S. 61 mißfällt; in anderem Sinne wieder spricht man von Wort, wenn das, was im Geiste empfangen wurde, gefällt. Gemäß dieser letzten Art von Worten muß man den Ausspruch des Apostels verstehen: „Niemand sagt: Herr Jesus, außer im Heiligen Geiste.“1 Nach dem anderen Begriff von Wort können dies auch jene sagen, von denen der Herr selbst versichert: „Nicht jeder, der sagt: Herr, Herr, wird in das Himmelreich eingehen.“2 Da indes das, was wir hassen, mit Recht mißfällt und von uns mit Recht mißbilligt wird, so wird seine Mißbilligung gebilligt, sie gefällt und ist ein Wort. Nicht die Kenntnis der Fehler mißfällt uns, sondern der Fehler selbst. Es gefällt mir doch, daß ich weiß und bestimmen kann, was Unmäßigkeit ist, und das ist das Wort von ihr. So kennt man in der Wissenschaft die Fehler, und mit Recht wird ihre Kenntnis gebilligt, wenn der Fachmann die Schönheit und den Mangel der Tugend unterscheidet wie ja und nein, sein und nicht sein; der Tugend ermangeln und in Fehler fallen, ist jedoch verwerflich. Die Unmäßigkeit bestimmen und so ihr Wort aussprechen, gehört zur Sittenlehre; unmäßig sein hingegen ist das, was von dieser Wissenschaft als Schuld bezeichnet wird. Ebenso gehört es zur Redekunst, zu wissen und zu bestimmen, was der Soloezismus ist. Einen solchen zu begehen, ist jedoch ein Fehler, der eben von der Redekunst getadelt wird. Ein Wort ist also, wie wir jetzt auseinanderlegen und klarmachen wollen, eine mit Liebe verbundene Kenntnis. Wenn sich daher der Geist kennt und liebt, dann eint sich mit ihm in Liebe sein Wort. Und weil er seine Kenntnis liebt und seine Liebe kennt, ist sowohl das Wort in der Liebe wie auch die Liebe im Worte und beides im Liebenden und Sprechenden.