7. Kapitel. Die Irrtümer über die Substanz der Seele.
9. Wenn sich also der Geist für etwas Derartiges hält, dann hält er sich für einen Körper. Und weil er sich gut seines Vorranges bewußt ist, nach dem er über den Körper herrscht, so kam es, daß manche fragten, was am Körper am meisten wert sei, und dies hielten sie S. 81 dann für den Geist oder überhaupt für die ganze Seele. Die einen hielten so das Blut, die anderen das Gehirn, wieder andere das Herz — nicht wie die Schrift das Wort gebraucht, wenn sie sagt: „Ich preise dich, Herr, in meinem Herzen“,1 und: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben aus deinem ganzen Herzen“;2 hier wird nämlich das Wort mißbräuchlich oder in übertragenem Sinne vom Körper her auf die Seele angewendet, sondern ein Körperteilchen, wie wir es an zerrissenen Eingeweiden sehen können —, für ganz und gar eins mit der Seele. Andere glaubten, sie bestehe aus ganz kleinen, unteilbaren Körperchen, die sie Atome nannten, die sich gegenseitig anziehen und zusammenhängen. Andere sagten, ihre Substanz sei Luft, andere, sie sei Feuer. Andere glaubten, sie habe gar keine Substanz, da sie eine Substanz nur als Körper denken konnten und nicht fanden, daß sie ein Körper sei; sie sei vielmehr das Ordnungsverhältnis unseres Körpers oder der Zusammenhalt der Urstoffe, aus denen dieses Fleisch gleichsam gebaut ist. Folgerichtig glaubten auch alle diese Leute, sie sei sterblich; mag sie nämlich ein Körper sein, mag sie irgendein Gefüge des Körpers sein, auf keinen Fall kann sie unsterblich fortdauern. Diejenigen aber, die zu der Einsicht kamen, daß ihre Substanz eine Art Leben ist, und zwar kein körperliches — das Leben beseelt und belebt ja jeden lebendigen Körper —, versuchten folgerichtig auch nachzuweisen, so gut es jeder konnte, daß sie unsterblich ist, weil das Leben das Leben nicht entbehren kann. Sie sagten nämlich, die Seele sei aus einem, ich weiß nicht welchem, fünften Stoff, den manche zu den bekannten vier Elementen dieser Welt hinzufügen. Ich glaube nicht, daß ich darüber an dieser Stelle lange handeln soll. Sie nennen nämlich entweder das gleiche Körper wie wir, jenes nämlich, von dem ein Teil, der einen bestimmten Raum einnimmt, kleiner ist als das Ganze — zu ihnen sind S. 82 zu rechnen jene, die den Geist für eine körperliche Substanz hielten —, oder sie nennen Körper jede Substanz oder wenigstens jede wandelbare Substanz, da sie wissen, daß nicht jede Substanz in Höhe, Breite und Tiefe von Raum umschlossen ist. In diesem Falle will ich mich mit ihnen nicht in ein Wortgefecht einlassen.
10. Wer aus all diesen Anschauungen herausfindet, daß die Natur des Geistes eine Substanz ist, und zwar keine körperliche, das heißt, daß sie nicht mit einem kleineren Teile von sich einen kleineren Raum einnimmt, mit einem größeren einen größeren, der muß zugleich sehen, daß diejenigen, welche den Geist für eine körperliche Substanz halten, nicht deshalb irren, weil der Geist ihrer Kenntnis fehlen würde, sondern weil sie etwas hinzufügen, ohne das sie sich eine Natur nicht denken können. Wenn man sie nämlich etwas ohne körperliche Vorstellungsbilder denken heißt, dann glauben sie, daß dies ganz und gar nichts sei. Daher sucht der Geist nicht nach sich, als ob er sich fehlen würde. Was sollte denn der Erkenntnis so gegenwärtig sein wie das, was dem Geiste gegenwärtig ist? Oder was wäre dem Geiste so gegenwärtig wie eben der Geist? Was klingt uns denn in dem, was wir Erfindung heißen, wenn wir dem Ursprung des Wortes nachgehen, anderes entgegen, als daß finden (invenire) soviel ist wie zu dem gelangen (venire), was gesucht wird? Daher ist es nicht ungebräuchlich von dem, was gleichsam von selbst in den Geist gelangt, zu sagen, daß es gefunden wird, wenngleich es erkannt genannt werden kann. Wir haben nicht suchend zu ihm hingetrachtet, daß wir zu ihm hingelangten (veniremus), das heißt es fanden (inveniremus). Wie daher das, was man mit den Augen oder irgendeinem anderen Leibessinn sucht, der Geist selbst sucht — er ist es nämlich, der auch dem Leibessinn Antrieb und Richtung gibt — und es dann findet, wenn eben dieser Sinn zu dem Gesuchten hingelangt, so findet er anderes, das er nicht durch die vermittelnde S. 83 Kunde des Leibessinnes, sondern durch sich selbst erkennen muß, so findet er dies, wenn er zu ihm hingelangt; er findet es entweder in einer höheren Substanz, das heißt in Gott, oder in den übrigen Teilen der Seele — so wenn er über die Bilder der Körper ein Urteil fällt; sie findet er nämlich drinnen in der Seele, der sie durch Vermittelung des Leibes eingeprägt wurden.