11. Kapitel. Die wesentliche Einheit von Gedächtnis, Einsicht und Wille und ihre relative Verschiedenheit.
17. Wenn wir also das übrige, dessen der Geist in bezug auf sich sicher ist, ein wenig wegdenken, dann bleiben für unsere Überlegung und Behandlung vorzüglich diese drei: Gedächtnis, Einsicht und Wille. Aus diesen dreien pflegt man auch die Begabung der kleinen Kinder zu ersehen, welche Anlage immer sie aufweisen. Je treuer und leichter nämlich das Gedächtnis eines Knaben ist, je schärfer seine Einsicht, je brennender sein Eifer, um so lobenswerter ist seine Begabung. Wenn man aber nach der Fachkenntnis eines Menschen fragt, dann fragt man nicht nach der Sicherheit und Leichtigkeit des Gedächtnisses oder nach der Schärfe der Einsicht, sondern nach dem Inhalte des Gedächtnisses und nach dem Inhalte der Einsicht. Und weil das Urteil über die Lobwürdigkeit des Geistes nicht bloß von seinen Kenntnissen, sondern auch von seinem Gutsein abhängt, S. 90 achtet man nicht nur auf den Inhalt seines Gedächtnisses und seiner Einsicht, sondern auch auf die Richtung seines Willens, zunächst also nicht auf das Feuer des Willens, sondern auf den Inhalt, dann erst auf die Kraft des Wollens. Nur dann nämlich ist ein heftig liebender Geist zu loben, wenn das, was er liebt, eine heftige Liebe verdient. Wenn man also von diesen dreien spricht, von der Begabung, den Fachkenntnissen und dem praktischen Gehaben, so hängt das Urteil über die erste ab von der Kraft des Gedächtnisses, der Einsicht und des Willens. Das zweite ist zu beurteilen nach dem Inhalt, den man im Gedächtnis und in der Einsicht besitzt, und nach der Richtung, in die der eifrig sich mühende Wille trachtet. Dazu kommt aber als drittes das im Willen sich vollziehende praktische Gehaben. Der Wille verfügt ja über das, was im Gedächtnis und in der Einsicht enthalten ist, sei es, daß er es auf etwas anderes hinordnet, sei es, daß er in ihm, sich an ihm als dem Endziele freuend, ruht. Gebrauchen heißt nämlich etwas in das Vermögen des Willens aufnehmen, genießen aber heißt gebrauchen mit Freude, nicht in der Hoffnung, sondern in der Wirklichkeit. Jeder also, der genießt, gebraucht; er nimmt ja etwas in das Vermögen des Willens auf mit dem Endziele der Lust. Nicht jeder aber, der gebraucht, genießt, wenn er nämlich das, was er in das Vermögen des Willens aufnimmt, nicht um dieses Dinges selbst willen, sondern um eines anderen willen erstrebte.
18. Diese drei also, Gedächtnis, Einsicht und Wille, sind, da sie nicht drei Leben sind, sondern ein Leben und nicht drei Geister, sondern ein Geist, folgerichtig auch nicht drei Substanzen, sondern eine Substanz. Das Gedächtnis besagt ja, soferne es Leben, Geist und Substanz heißt, eine in sich selbst ruhende Wirklichkeit. Soferne es indes als Gedächtnis betrachtet wird, besagt es eine beziehentliche Wirklichkeit. Das gleiche möchte ich auch von der Einsicht und vom Willen S. 91 behaupten. Auch Einsicht und Wille besagen ja eine Beziehung. Leben aber ist jedes in seiner beziehungslosen, in sich selbst ruhenden Wirklichkeit, ebenso Geist und Wesen. Diese drei sind daher dadurch eins, daß sie ein Leben, ein Geist, ein Wesen sind; und was man immer sonst noch von ihnen hinsichtlich ihrer in sich ruhenden Wirklichkeit aussagt, gilt auch von ihnen zusammen nicht in der Mehrzahl, sondern in der Einzahl. Drei indes sind sie dadurch, daß sie aufeinander bezogen werden. Wenn sie nicht gleich wären, nicht nur jedes einzelne jedem einzelnen, sondern auch jedes einzelne ihrer Gesamtheit, so würden sie einander sicherlich nicht gegenseitig fassen. Es wird ja nicht bloß jedes einzelne von jedem einzelnen, sondern auch ihre Gesamtheit von jedem einzelnen erfaßt. Ich erinnere mich nämlich, daß ich Gedächtnis, Einsicht und Willen habe: ich sehe ein, daß ich einsehe, will und mich erinnere; ich will, daß ich will, mich erinnere und einsehe; ich erinnere mich zugleich meines ganzen Gedächtnisses, meiner ganzen Einsicht und meines ganzen Willens. Wessen ich mich nämlich aus dem Inhalt meines Gedächtnisses nicht erinnere, das ist nicht in meinem Gedächtnis. Nichts aber ist so sehr in meinem Gedächtnis wie das Gedächtnis selbst. Also erinnere ich mich seiner in seiner Ganzheit. Ebenso weiß ich, daß ich einsehe, was immer ich einsehe, und weiß, daß ich will, was immer ich will; was ich aber weiß, dessen erinnere ich mich. Also erinnere ich mich meiner ganzen Einsicht und meines ganzen Willens. Ebenso sehe ich, wenn ich diese drei einsehe, sie in ihrer Ganzheit ein. Von Einsichtigem sehe ich nämlich nur das nicht ein, was ich nicht weiß; was ich aber nicht weiß, dessen erinnere ich mich auch nicht, das will ich auch nicht. Was immer ich daher von Einsichtigem nicht einsehe, dessen erinnere ich mich folgerichtig auch nicht, das will ich auch nicht. Wessen immer an Einsichtigem aber ich mich erinnere, was immer ich will, das sehe ichS. 92folgerichtig auch ein. Auch mein Wille umfaßt meine ganze Einsicht und mein ganzes Gedächtnis, wenn ich nur die Gesamtheit dessen, was ich einsehe und wessen ich mich erinnere, gebrauche. Wenn daher alle insgesamt in ihrer Ganzheit von jedem einzelnen erfaßt werden, dann ist jedes einzelne in seiner Ganzheit jedem anderen einzelnen in seiner Ganzheit gleich; ebenso ist jedes einzelne in seiner Ganzheit zugleich allen in ihrer Gesamtheit gleich, und diese drei sind eins, ein Leben, ein Geist, ein Wesen.
