3. Kapitel. Von der Einheit, die Gedächtnis, innere Schau und Wille bei der Vorstellung bilden.
6. Die verstandesbegabte Seele führt indes ein schändliches Leben, wenn sie nach der Dreiheit des äußeren Menschen lebt, das heißt, wenn sie sich mit den Dingen, die von außen her den Leibessinn formen, einläßt, nicht in lobenswertem Willen, in welchem sie das Äußere auf irgendeinen Nutzen hinordnet, sondern in schmählicher Gier, in der sie sich an diese Dinge wegwirft. Auch wenn nämlich die Gestalt des Körpers, der mittels des S. 104 Leibes wahrgenommen wurde, entfernt wird, bleibt im Gedächtnis sein ihm ähnliches Abbild zurück, auf das der Wille die Sehkraft wiederum hinlenken kann, so daß sie hierdurch von innen her geformt wird, wie der Sinn von dem ihm begegnenden sinnfälligen Körper von außen her geformt wurde. Und so entsteht eine Dreiheit aus Gedächtnis, innerer Schau und dem Willen, der beide eint. Weil diese drei sich zur Einheit zusammenfügen (coguntur), so spricht man von dieser Zusammenfügung her von Vorstellung als Zusammenstellung (ab ipso coactu cogitatio).1 Bei diesen dreien nun herrscht keine Substanzverschiedenheit mehr. Nicht ist ja dort jener sinnfällige Körper, der von der Natur des beseelten Lebewesens ganz und gar verschieden ist; nicht wird dort der Leibessinn geformt, auf daß die Schau geschehe; nicht geht der Wille darauf aus, den Sinn zur Formung an den sinnfälligen Gegenstand hinzubewegen und nach der Formung an ihm festzuhalten. An die Stelle jener körperlichen Gestalt, die draußen wahrgenommen wurde, tritt vielmehr das Gedächtnis, das jene Gestalt, welche die Seele durch den Leibessinn in sich hineintrinkt, aufbewahrt; und an die Stelle jener Schau, die sich nach außen richtete, als der Sinn vom sinnfälligen Körper geformt wurde, tritt eine ähnliche nach innen gerichtete Schau, da von dem, was das Gedächtnis festhält, die Sehkraft der Seele geformt wird, und abwesende Körper gedacht werden; und der Wille selbst wendet, wie er den Sinn zu dem ihm begegnenden Körper nach außen zur Formung hmbewegte und nach der Formung mit dem Körper vereinigte, so die Sehkraft der sich erinnernden Seele dem Gedächtnis zu, auf daß sie von dem, was dises festhält, geformt werde und im Denken eine ähnliche Schau geschehe. Wie aber durch den Versand die sichtbare Gestalt, durch die der Leibessinn geformt wurde, und sein ihm ähnliches Abbild, welches im geformten Sinn entstand, auf daß die Schau S. 105 geschehe, gesondert gesehen wurde — im übrigen waren sie ja so innig verbunden, daß sie vollkommen für eine und dieselbe Wirklichkeit gehalten wurden —: so ist es auch mit der Vorstellung, wenn die Seele die Gestalt des geschauten Körpers denkt; wenn sie auch aus dem dem Körper ähnlichen Abbild, welches das Gedächtnis festhält, und aus dem Bilde Bestand gewinnt, das hiervon in der Sehkraft der sich erinnernden Seele geformt wird, so erscheinen diese beiden doch so sehr als eine einzige Wirklichkeit, daß nur der urteilende Verstand entdecken kann, daß zwei Dinge da sind. Mit ihm sehen wir ein, daß etwas anderes ist, was im Gedächtnis bleibt, auch wenn unsere Gedanken anderswo sind, daß etwas anderes entsteht, wenn wir uns erinnern, das heißt zum Gedächtnis zurückkehren und dort die gleiche Gestalt finden. Wenn sie nicht mehr dort wäre, dann würden wir sagen, daß wir sie so sehr vergessen haben, daß wir uns überhaupt nicht mehr entsinnen können. Wenn aber die Sehkraft des sich Erinnernden nicht von dem Gegenstand, der im Gedächtnis war, geformt würde, dann könnte keine Schau im Denken geschehen. Aber die Verbindung der beiden, das heißt jenes Bildes, welches das Gedächtnis festhält, und jenes Bildes, das als Ausdruck von ihm entstand, so daß die Sehkraft des sich Erinnernden geformt wurde, läßt die beiden, weil sie einander ganz ähnlich sind, wie eine Wirklichkeit erscheinen. Wenn sich aber die Sehkraft des Denkenden abwendet und aufhört, das, was im Gedächtnis gesehen wurde, anzuschauen, dann bleibt von der Form, die eben dieser Sehkraft eingeprägt war, nichts mehr übrig. Andererseits wird sie wieder von dieser Form geformt werden, wenn sie sich ihr wiederum zuwendet, auf daß ein neuer Gedanke entstehe. Bleibenden Bestand jedoch hat, was sie im Gedächtnis zurückließ; ihm wendet sie sich, wenn wir uns daran erinnern, wieder zu; von ihm wird sie, sich ihm zuwendend, geformt; dann wird sie eins mit dem, von dem sie geformt wird.
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Vgl. E. Przywara, Augustinus, 278. ↩