7. Kapitel. Das gegenseitige Verhältnis der drei Glieder bei der Gedächtnisvorstellung, insbesondere das Verhältnis des Willens zu den beiden anderen Gliedern.
11. Bei jener Dreiheit hingegen, die zwar innerlicher ist als die im Sinnfälligen und in den Sinnen sich vollziehende, die aber doch von daher empfangen wurde — es wird ja dabei nicht mehr vom Körper der Leibessinn, sondern vom Gedächtnis die Sehkraft der Seele geformt, wenn die Gestalt des Körpers, den wir draußen wahrgenommen haben, im Gedächtnis selbst festhängt —, bei dieser Dreiheit also nennen wir die Gestalt, die im Gedächtnis ist, gleichsam die Erzeugerin der Gestalt, die im Vorstellungsbild des Denkenden ist. Sie war im Gedächtnis, noch bevor sie von uns gedacht wurde, wie der Körper im Raum und Ort war, auch bevor er wahrgenommen wurde; dadurch geschah dann die Schau. Aber wenn sie gedacht wird, dann prägt sie sich von der Gestalt, die das Gedächtnis festhält, in der Sehkraft des Denkenden aus und wird durch die S. 114 Erinnerung geformt; sie ist sonach gleichsam der Sproß der anderen Gestalt, die das Gedächtnis festhält. Aber auch hier ist die eine keine wahre Erzeugerin, die andere kein wahrer Sproß. Die Sehkraft der Seele nämlich, die vom Gedächtnis her geformt wird, wenn wir, uns erinnernd, etwas denken, geht nicht von der Gestalt hervor, die wir gesehen haben und an die wir uns erinnern — wir könnten uns ja dieser Dinge nicht erinnern, wenn wir sie nicht gesehen hätten —; die Sehkraft der Seele aber, die bei der Erinnerung geformt wird, hatte auch schon Bestand, bevor wir den Körper, an den wir uns erinnern, gesehen haben, um wieviel mehr, bevor wir ihn dem Gedächtnis anvertrauten? Wenngleich daher die Form, die in der Sehkraft des sich Erinnernden entsteht, aus jener Form entsteht, die im Gedächtnis ist, so hat doch das Dasein der Sehkraft hier nicht seinen Ursprung; sie war vielmehr schon vorher. Es ist aber folgerichtig, daß, wenn die eine nicht wahre Erzeugerin ist, die andere nicht wahrer Sproß ist. Aber indem die eine gleichsam Erzeugerin, die andere gleichsam Sproß ist, deuten sie einen Sachverhalt an, an dem man mehr Übung und Sicherheit gewinnt, um Innerlicheres und Wahreres zu sehen.
12. Besonders schwierig ist es, genau zu unterscheiden, ob der Wille, der die Schau mit dem Gedächtnis eint, nicht, sei es der Erzeuger, sei es der Sproß, einer dieser beiden Wirklichkeiten ist. Die Schwierigkeit dieser Unterscheidung kommt von der Gleichheit und Gleichförmigkeit derselben Natur und Substanz. Denn nicht kann, wie bei der äußeren Sinneswahrnehmung der geformte Sinn von dem sinnfälligen Körper und der Wille von beiden wegen der allen dreien zukommenden Naturverschiedenheit ― wir haben über sie oben hinlänglich gesprochen ― leicht unterschieden wurde, so auch hier leicht der Unterschied gesehen werden. Wenngleich nämlich diese Dreiheit, von der jetzt die Rede ist, von außen in die Seele hereingekommen ist, so S. 115 verwirklicht sie sich doch drinnen, und nichts an ihr liegt außerhalb der Natur der Seele selbst. Wie läßt sich also zeigen, daß der Wille nicht gleichsam der Erzeuger und nicht gleichsam der Sproß ist, sei es des dem Körper ähnlichen Abbildes, das im Gedächtnis enthalten ist, sei es des Bildes, das sich hiervon, wenn wir uns erinnern, abprägt, wo er doch bei der Vorstellung beide so sehr eint, daß sie gleichsam wie eine einzige Wirklichkeit erscheinen und nur der Verstand sie zu unterscheiden vermag? Erstlich nun muß man beachten, daß es einen Erinnerungswillen nur geben kann, wenn wir entweder das Ganze, dessen wir uns erinnern wollen, oder doch einen Teil hiervon in den Gemächern unseres Gedächtnisses festhalten. Wenn wir nämlich etwas auf jede Weise und in allen Teilen vergessen haben, so kann auch kein Wille entstehen, sich daran zu erinnern. Wenn wir uns nämlich an etwas erinnern wollen, dann haben wir uns schon erinnert, daß es in unserem Gedächtnis ist oder war. Wenn ich mich zum Beispiel erinnern will, was ich gestern abend aß, so habe ich mich entweder schon daran erinnert, daß ich überhaupt zu Abend aß, oder wenn auch nicht hieran, dann habe ich mich sicher an etwas erinnert, was zu dieser Zeit geschah: wenn an nichts anderes, dann wenigstens an den gestrigen Tag selber und jenen Teil von ihm, an dem man das Abendmahl einzunehmen pflegt, und was es heißt, das Abendessen einzunehmen. Denn wenn ich mich an nichts Derartiges erinnert hätte, dann könnte ich nicht den Willen haben, mich daran zu erinnern, was ich gestern abend aß. Es läßt sich sonach ersehen, daß der Wille, sich zu erinnern, zwar von jenen Gegenständen hervorgeht, die im Gedächtnis enthalten sind, und zugleich von jenen, die sich hiervon bei der Erinnerung ausprägen, so daß es zur Schau kommt, das heißt, daß er hervorgeht von der Verbindung des Gegenstandes, an den wir uns erinnert haben, und der Schau, die, als wir uns erinnerten, in S. 116 der Sehkraft des Denkenden geschah. Zum Wesen des Willens selbst aber, der beide eint, gehört noch etwas Weiteres, etwas, das dem sich Erinnernden gleichsam nachbarlich und berührlich verbunden ist.1 Es gibt also soviele Dreiheiten dieser Art, als es Erinnerungen gibt, weil es keine solche gibt, wo nicht diese drei wären: das, was im Gedächtnis verborgen ist, auch bevor es gedacht wird, das, was hieraus beim Denken entsteht, wenn es zur Schau kommt, und der Wille, der beide verbindet und so ein aus diesen beiden und sich als drittem Glied bestehendes einheitliches Gebilde verwirklicht. Oder soll man lieber nur eine einzige Dreiheit dieser Art gelten lassen, in der Weise, daß wir allgemein eine einzige Wirklichkeit nennen, was immer an körperlichen Gestalten im Gedächtnis verborgen ruht, und wiederum eine einzige Wirklichkeit die allgemeine Schau der Seele, die sich an solches erinnert und es denkt; der Einigung der beiden würde sich als drittes der einigende Wille hinzugesellen, so daß dieses Ganze eine Art einheitliches, aus dreien gewordenes Gebilde wäre?
Soferne er nicht nur von beiden hervorgeht, sondern auch wieder zur Erinnerung antreibt und daher ihr auch wieder vorangeht und also gleichsam in einer tieferen Schicht des Geistes liegt. ↩
