10. Kapitel. Die schlimmste Entstellung des Gottesbildes in der Seele.
15. Wenn sie also im guten Willen, das Innere und Höhere zu ergreifen, das nicht als Sondergut, sondern als Gemeingut von allen, die solches lieben, ohne gegenseitige Beengung oder gegenseitigen Neid in keuscher Umarmung besessen wird, sich oder anderen einen Rat gibt und dabei aus Unkenntnis zeitlicher Dinge irgendeinen Irrtum begeht — auch dies vollführt sie ja auf zeithafte Weise — und nicht die Weise des Handelns einhält, die sie sollte, so ist das eine menschliche Versuchung. Und es ist etwas Großes, dieses Leben, das wir durchwandeln, indem wir gleichsam einen Weg zurücklegen, so zu verbringen, daß uns nur eine menschliche Versuchung erfaßt.1 Das ist nämlich eine Sünde außerhalb des Leibes und wird nicht zur Unkeuschheit gerechnet und kann daher ganz leicht verziehen werden. Wenn sie hingegen etwas tut, um das zu erlangen, was sie durch den Leibessinn wahrnimmt, wegen der Gier also, etwas zu erleben oder hervorzuragen oder etwas mit den Sinnen zu spüren, und so in diese Dinge das Endziel ihres guten Handelns verlegt, wenn sie also so handelt, dann treibt sie Schändliches, S. 143 mag sie treiben was immer;2 sie treibt Unkeuschheit, sich gegen den eigenen Leib versündigend und trügerische Bilder von körperlichen Dingen in ihr Inneres mitschleppend und in eitlen Sinnen drinnen formend, so daß ihr auch das Göttliche nur noch etwas Derartiges zu sein scheint. Gierig nach Sonderbesitz wird sie schwanger an Irrtümern, und ihr Sondergut verschwendend, wird sie arm an Kraft. Zu einer so schändlichen und elenden Unzucht kommt sie nicht gleich von Anfang an mit einem Sprung, sondern wie es in der Schrift heißt: „Wer kleines nicht achtet, wird allmählich herunter kommen.“3