15. Kapitel. Die platonische Wiedererinnerungs- und die Erleuchtungslehre.
S. 153 24. Das war ja auch der Grund, warum der edle Philosoph Plato1 davon zu überzeugen suchte, daß die Seelen der Menschen hier schon gelebt hätten, bevor sie ihre Körper mit sich führten; daher komme es, so sagt er, daß man sich an das, was man lerne, als an etwas Bekanntes eher erinnere, als daß es neu erkannt werde. Er berichtete nämlich, daß irgendein Knabe, dem er eine Frage über Geometrie stellte, so geantwortet habe, als wäre er in diesem Wissenszweige ganz zu Hause. Als man ihn nämlich nach und nach und methodisch fragte, sah er, was zu sehen war, und sagte, was er sah. Wenn indes das eine Erinnerung an vorher erkannte Dinge wäre, dann könnten doch nicht alle oder fast alle, wenn man sie so befragt, dieselben Antworten geben. Es waren ja nicht alle im früheren Leben Mathematiker, da doch diese unter den Menschen so selten sind, daß man kaum einen Mathematiker finden kann.2 Man muß vielmehr glauben, daß Gott die Natur S. 154 des erkennenden Geistes so schuf, daß er mit den geistig einsehbaren Dingen in natürlicher Ordnung infolge der Anordnung des Schöpfers verbunden und ihnen unterworfen ist und so in einem gewissen unkörperlichen Licht eigener Art3 jene Dinge sieht, wie das leibliche Auge sieht, was im körperlichen Lichte in seinem Umkreis liegt — für dieses Licht empfänglich und ihm angepaßt ist es, weil es so geschaffen ist. Auch dies vermag ja weiß und schwarz ohne Lehrer nicht deshalb zu unterscheiden, weil es diese Farben schon kannte, bevor es in diesem Fleische geschaffen wurde. Letztlich warum kommt es nur bei geistig einsichtigen Dingen vor, daß jemand, der gut gefragt wird, Antworten zu geben vermag, die jeweils zu dem betreffenden Wissensfach gehören, auch wenn er darin unbewandert ist? Warum kann das niemand bei sinnfälligen Dingen tun, außer wenn er sie, da er in diesem Körper erschaffen ist, sieht oder denen, die sie kennen, glaubt, mögen sie in Schrift oder Wort hiervon erzählen? Man darf sich nämlich nicht mit jenen beruhigen, welche erzählen, Pythagoras S. 155 aus Samos habe sich an einiges Derartiges erinnert, das er erfahren habe, da er hier schon einmal in einem anderen Leibe gewesen sei. Andere erzählen wieder von anderen, daß sie etwas dieser Art in ihrem Geiste erlebt hätten. Daß es sich jedoch hierbei um irrige Erinnerungen handelte, wie wir sie vielfach im Schlafe erleben, wenn es uns vorkommt, als ob wir uns erinnerten, etwas getan oder gesehen zu haben, was wir nicht getan und nicht gesehen haben, und daß in diesen Zustand der Geist jener Männer auch im Wachen versetzt wurde, und zwar durch die Eingebungen bösartiger und trügerischer Geister, die alle Sorge darauf verwenden, über das Werden der Seelen zur Täuschung der Menschen falsche Meinungen zu befestigen oder zu verbreiten: das kann daraus erschlossen werden, daß, wenn sich jene Männer an die Dinge wirklich erinnerten, die sie früher einmal hier in anderen Leibern sahen, dies vielen oder fast allen Leuten widerfahren würde, wo man doch vermutet, daß unaufhörlich aus Lebenden Tote, aus Toten Lebende werden, wie aus Wachenden Schlafende und aus Schlafenden Wache.
25. Wenn also die rechte Unterscheidung zwischen Weisheit und Wissenschaft4 die ist, daß zur Weisheit die schauende Erkenntnis der ewigen Dinge gehört, zur S. 156 Wissenschaft aber die Verstandeserkenntnis der zeitlichen Dinge, so ist es nicht schwer, zu entscheiden, was dem einen vorzuziehen, was nachzusetzen ist. Wenn man aber eine andere Unterscheidung machen muß, durch welche diese beiden auseinandergehalten werden können — daß sie unbezweifelbar verschieden sind, lehrt der Apostel, wenn er sagt: „Dem einen wird durch den Geist die Rede der Weisheit gegeben, dem anderen die Rede der Wissenschaft nach demselben Geist“5 —, so ist doch der Unterschied auch zwischen diesen beiden Sachverhalten, die wir angenommen haben, ganz offensichtlich, daß nämlich die eine die schauende Erkenntnis der ewigen Dinge ist, die andere die Verstandeserkenntnis der zeitlichen, und niemand bezweifelt, daß die erstere der zweiten vorzuziehen ist. Wenn wir das, was zum äußeren Menschen gehört, verlassen und von dem, was wir mit den Tieren gemeinsam haben, nach innen aufzusteigen verlangen, so begegnet uns, bevor wir zur Erkenntnis der geistig einsichtigen und höchsten Dinge, die ein immerwährendes Sein haben, gelangen, die Verstandeserkenntnis der zeitlichen Dinge. Auch in ihr wollen wir, wenn wir können, irgendeine Dreiheit finden, wie wir sie in den Leibessinnen fanden und in dem, was in unsere Seele oder in unseren Geist bildhaft eintrat, so daß wir entsprechend den körperlichen Dingen, welche draußen stehen, und die wir mit dem Leibessinn berühren, drinnen Bilder der Körper S. 157 haben, die dem Gedächtnis eingeprägt sind und aus denen das Denken geformt wird, wenn der Wille als drittes beides verbindet — so wurde ja auch von draußen die Sehkraft der Augen geformt, welche der Wille, auf daß eine Schau geschehe, an das sichtbare Ding hintrug; er vereinigte sie dann beide, indem er auch hier sich selbst als drittes hinzugesellte. Die Erörterung hierüber soll jedoch nicht mehr in dieses Buch hineingezwängt werden, so daß in dem folgenden, wenn Gott hilft, die Untersuchung passend weitergeführt und, was gefunden ist, erklärt werden kann.
Vgl. über Plato etwa H. Meyer, Geschichte der alten Philosophie. München 1925, 139—142. ↩
Was Augustins Verhältnis zur platonischen Wiedererinnerungslehre betrifft, so sucht Gilson a. a. O. S. 134 f., 141 f. zu zeigen, daß Augustinus nie die platonische Lehre von der Präexistenz der Seele rückhaltlos vertritt, wenngleich er ihr in seinen ersten Schriften nahegestanden ist. Vgl. auch J. Hessen, Die Begründung der Erkenntnis nach dem heiligen Augustinus. Münster 1916, 55—62. In den Retractationes verwirft er die platonische Lehre entschieden (l. I c. 4 n. 4; c. 8 n. 2). Wenn er auch die platonische Formel von der Wiedererinnerung in jeder Periode seiner schriftstellerischen Tätigkeit beharrlich wiederholt, so bedeutet sie doch in späteren Schriften nicht mehr, was sie zu Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit bedeutet, nicht mehr nämlich Erinnerung an Vergangenes, sondern an Gegenwärtiges. Sich erinnern wird soviel wie: erleuchtet werden. ↩
Man könnte vielleicht auch übersetzen: von der gleichen Art wie der Geist (quadam luce sui generis incorporea). Gilson a. a. O. S. 485 f. macht darauf aufmerksam, daß im Mittelalter Matthäus von Aquasparta (Quaestiones disputatae, ed. Quaracchi 1903, Bd. 1, S. 243 und 264) die Stelle in dem im Texte dieser Übersetzung gebotenen Sinne erklärte, Thomas von Aquin hingegen (De spiritualibus creaturis X) die Stelle in dem vorhin genannten Sinne verstand. Selbst wenn die letzte Erklärung richtig wäre, so würde Augustinus damit nur sagen, daß dieses Licht zur Seinsart der Seele gehört, also unstofflich ist, nicht aber, daß es geschaffen ist wie die Seele. Wie die Leibesaugen die körperlichen Dinge in einem Lichte schauen, das körperlich ist wie die Augen, so schaut der Geist die geistigen Dinge in einem Lichte, das unkörperlich ist wie der Geist. Ch. Boyer, L’idée de Vérité dans la philosophie de saint Augustin, Paris 1921, hat Augustinus mit thomistischen Augen gesehen. Für Matthäus von Aquasparta siehe M. Grabmann, Die philosophische und theologische Erkenntnislehre des Kardinals Matthäus von Aquasparta, Wien 1916. ↩
Die Weisheit vollzieht sich im Bereiche der höheren Vernunft durch die Schau der unwandelbaren Wahrheit, in der Unterwerfung unter die Ideen, d. h. unter Gottes Wahrheit; sie schließt in sich und begründet die Seligkeit. Die Wissenschaft vollzieht sich im Bereiche der niederen Vernunft durch die zergliedernde Erkenntnis der sinnfälligen Dinge. Ihr ist das Tun zugeordnet, die Leitung und Ordnung der irdischen Gebiete. Sie ist von der Gefahr bedroht, daß sie in der Körperwelt stehenbleibt, in den Dingen ausruht, sie um ihrer selbst willen kennen will und so, indem sie nicht mehr über das Reich der Sinne hinauskommt, deren Sklave wird. Das rechte Verständnis ist dies, daß die Wissenschaft sich der Weisheit unterordnet, deren Werkzeug sein will und ein Weg zu ihr. Augustinus lehnt eine wissenschaftsimmanente, d. h. eine in sich selbst stehende und sich aus sich selbst verstehende Wissenschaft ab. Vgl. für die Unterscheidung und gegenseitige Zuordnung von Weisheit und Wissenschaft: Gilson a. a. O. 193—214; Schmaus a. a. O. 285―291. Wie die augustinische Anschauung im Mittelalter weiterlebt, kann man zum Beispiel ersehen in dem sehr aufschlußreichen Buche: Theophora Schneider O. S. B., Der intellektuelle Wortschatz Meister Eckeharts. (Neue Deutsche Forschungen. Abteilung Deutsche Philologie, hrsg. von Jost Trier.) Berlin 1935. ↩
1 Kor. 12, 8. ↩
