14. Kapitel. Wenn der Mensch sich selbst in der rechten Weise liebt, dann liebt er Gott. Auch der schwache und irrende Geist bleibt mächtig durch sein Gedächtnis, seine Einsicht und seine Liebe.
18. Über die Liebe Gottes aber finden sich mehrere Zeugnisse in den göttlichen Aussprüchen. Dabei sind folgerichtig auch die zwei anderen Vorgänge mitgemeint, weil niemand liebt, wessen er sich nicht erinnert und was er gar nicht weiß. Deshalb ist dies das bekannteste und bedeutsamste Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben.“1 So ist also der menschliche Geist geschaffen, daß er niemals sich seiner nicht erinnert, niemals sich nicht einsieht, niemals sich nicht liebt. Weil aber, wer jemanden haßt, ihm zu schaden sucht, sagt man nicht mit Unrecht auch vom menschlichen Geiste, wenn er sich schadet, daß er sich haßt. Ohne es nämlich zu wissen, will er sich Übles, da er nicht glaubt, daß ihm schadet, was er will; aber doch will er sich Übles, wenn er will, was ihm schadet. Daher steht geschrieben; „Wer das Unrecht liebt, haßt seine Seele.“2 Wer also weiß, daß er sich liebt, liebt Gott. Wer aber Gott nicht liebt, von dem sagt man, auch wenn er sich liebt, was ihm naturhaft angeschaffen ist, doch nicht unzutreffend, daß er sich haßt, da er treibt, was sich gegen ihn kehrt, und er sich wie sein eigener Feind verfolgt. Vor diesem Irrweg muß man in der Tat erschrecken, daß nämlich,S. 235wenngleich alle sich nützen wollen, viele nur tun, was ihnen höchst schädlich ist. Als der Dichter ein ähnliches Siechtum bei stummen Tieren beschrieb, sagte er:
„Gnade, o Götter; den Frommen und Frevelnden jene Verirrung! Sie zerrissen mit bleckenden Zähnen die verstümmelten Glieder.“3
Warum anders sprach er, wo es sich doch um ein Siechtum des Leibes handelte, von einer Verirrung als deswegen, weil jedes Lebewesen von Natur aus so mit Neigung zu sich erfüllt ist, daß es sich, so gut es kann, bewahren will, jene Krankheit aber derart war, daß die, welche sich nach Gesundheit sehnten, ihre Glieder zerrissen? Wenn aber der Geist Gott liebt und folgerichtig, wie ich sagte, sich seiner erinnert und ihn einsieht, dann ergeht mit Recht das Gebot an ihn, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Denn nicht mehr liebt er sich verkehrt, sondern richtig, wenn er Gott liebt — durch Teilnahme an ihm hat jenes Bild nicht bloß Bestand, sondern wird aus seiner Überalterung wieder erneuert, aus seiner Entstellung wieder hergestellt, aus seiner Unseligkeit wieder glückhaft. Wenngleich er sich nämlich so liebt, daß er, wenn er vor die Wahl gestellt würde, es vorzöge, alles, was er unter sich liebt, zu verlieren, als verlorenzugehen, so ist er doch, indem er den Höheren verließ, in dessen Verbindung allein er seine Tapferkeit wahren und seines Lichtes sich freuen kann — an ihn wendet sich das Psalmwort: „Meine Tapferkeit will ich mit dir wahren“,4 und das andere: „Tretet zu ihm hin und ihr werdet erleuchtet“5 —, so ohnmächtig und finster geworden, daß er auch von sich selbst zu den Dingen, die nicht sein Selbst sind und die niedriger sind als er, in Unseligkeit abgeglitten ist durch die Liebesneigungen, die er nicht zu besiegen vermochte, und durch die Irrtümer, von denen loszukommen erS. 236keinen Weg sieht. Deshalb ruft, schon vom Erbarmen Gottes getroffen, der Büßer in den Psalmen: „Verlassen hat mich meine Tapferkeit, und das Licht meiner Augen ist nicht mehr mit mir.“6
19. Nicht jedoch konnte er in diesen großen Übeln der Ohnmacht und des Irrtums die naturgegebene Erinnerung, Einsicht und Liebe seiner selbst verlieren. Mit Recht konnte daher, worauf ich oben hinwies,7 gesagt werden: „Wenngleich der Mensch als Bild einhergeht, so verirrt er sich doch in Eitles. Er sammelt Schätze und weiß nicht, wem er sie sammelt.“8 Warum anders nämlich sammelt er Schätze als deshalb, weil seine Tapferkeit ihn verließ, in deren Besitz er, Gott besitzend, nichts bedurfte. Und warum anders weiß er nicht, wem er die Schätze sammelt, als deshalb, weil das Licht seiner Augen nicht mehr mit ihm ist? Deshalb sieht er nicht, was die Wahrheit sagt: „Du Tor, in dieser Nacht wird deine Seele von dir gefordert werden. Was du aufgespeichert hast, wem wird es sein?“9 Indes auch ein solcher Mensch geht als Bild einher, und sein Geist hat Erinnerung, Einsicht und Liebe seiner selbst; wenn man ihm eröffnete, daß er beides nicht haben kann, und ihm gestattete, eines von beiden zu wählen, das andere fahren zu lassen, entweder die Schätze, die er sammelte, oder den Geist: wer hätte da so wenig Geist, daß er die Schätze lieber hätte als den Geist? Die Schätze können nämlich den Geist vielfach zu Falle bringen; der Geist aber, der durch Schätze nicht zu Fall gebracht wird, kann ohne Schätze leichter und ungehinderter leben. Wer aber kann überhaupt Schätze besitzen, es sei denn durch den Geist? Wenn nämlich ein kleiner Knabe, mag er von Geburt noch so reich sein, da er ja der Herr des ganzen Besitzes ist, der ihm von Rechts wegen zusteht, doch nichts besitzt, weil sein Geist noch schläft, wie kann denn dann jemand etwas besitzen, wenn er seinen Geist verloren hat? Aber was rede ich davon,S. 237 daß jedermann lieber auf Schätze als auf den Geist verzichtet, wenn er vor eine solche Wahl gestellt würde, wo doch niemand den Schätzen den Vorzug gibt, ja niemand sie in Vergleich setzt mit dem Augenlicht des Leibes, durch das nicht bloß hin und wieder einmal ein Mensch den Himmel besitzt, wie hin und wieder einmal einer Gold besitzt, durch das vielmehr jeder Mensch den Himmel besitzt? Durch das Augenlicht besitzt nämlich jeder Mensch, was immer er gerne sieht. Wer also wollte, wenn er beides nicht behalten kann und gezwungen ist, eines zu verlieren, nicht lieber Schätze als seine Augen verlieren? Und doch, wenn er unter den gleichen Umständen gefragt würde, ob er lieber die Augen oder den Geist verliert, wer sähe da nicht in seinem Geiste, daß er lieber die Augen als den Geist verlieren wollte? Der Geist bleibt ja ohne die Augen des Fleisches menschlich, die Augen des Fleisches aber werden ohne den Geist tierisch. Wer aber würde es nicht vorziehen, ein Mensch zu sein, wenn er auch leiblich blind wäre, als ein sehendes Tier?
20. Dies sagte ich, damit auch die schwerfälligeren Leser, vor deren Augen oder Ohren dies Werk kommt, wenn auch nur in Kürze, von mir darauf hingewiesen würden, wie sehr der Geist sich selbst liebt, auch wenn er in Ohnmacht und Irrtum lebt, auch wenn er in schlimmer Weise liebt und zu erjagen sucht, was unter ihm ist. Sich lieben nun könnte er nicht, wenn er sich ganz und gar nicht kannte, das heißt, wenn er sich seiner nicht erinnerte und sich nicht einsähe. Durch dieses Bild Gottes, das er in sich trägt, ist er so mächtig, daß er dem, dessen Bild er ist, anzuhangen vermag. Eine solche Stufe nimmt er nämlich in der Ordnung der Natur, nicht des Raumes ein, daß über ihn hinaus nur jener ist. Schließlich wird er, wenn er ihm gänzlich anhängt, ein Geist mit ihm. Diesen Sachverhalt bezeugt der Apostel mit den Worten: „Wer aber dem Herrn anhängt, wird ein Geist mit S. 238 ihm“;10 dies geschieht, indem der menschliche Geist zur Teilnahme an jener Natur, Wahrheit und Seligkeit hinzutritt, nicht aber, indem Gott in seiner Natur, Wahrheit und Seligkeit wächst. In jener Natur also wird der Mensch, wenn er ihr glückselig anhängt, ein unwandelbares Leben führen und unwandelbar sehen alles, was er sieht. Dann wird, wie ihm die Heilige Schrift verheißt, sein Verlangen mit Gütern gesättigt werden,11 mit unwandelbaren Gütern, mit der Dreieinigkeit, seinem Gotte selbst, dessen Bild er ist; und damit hinfort nichts ihn verletze, wird er in der Verborgenheit seines Antlitzes sein,12 so von Gottes Überfluß erfüllt, daß es ihn nie mehr gelüstet zu sündigen. Wenn er hingegen jetzt sich selbst sieht, sieht er nichts Unwandelbares.
Deut. 6, 5. ↩
Ps. 10, 6 [Septuag. Ps. 10, 5; hebr. Ps. 11, 5]. ↩
Vergil, Georg. l. III vers. 313 f. ↩
Ps. 58, 10 [hebr. Ps. 59, 10]. ↩
Ps. 33, 6 [hebr. Ps. 34, 6]. ↩
Ps. 37, 11 [hebr. Ps. 38, 11]. ↩
Lib. XIV c. 4. ↩
Ps. 38, 7 [hebr. Ps. 39, 7]. ↩
Luk. 12, 20. ↩
1 Kor. 6, 17. ↩
Ps. 102, 5 [hebr. Ps. 103, 5]. ↩
Ps. 30, 21 [hebr. Ps. 31, 21]. ↩
