10. Kapitel. Das geistige Wort.
17. Jetzt aber wollen wir über die Dinge sprechen, die uns schon bekannt sind, wenn wir an sie denken, und die in unserem Wissensbesitz verbleiben, auch wenn wir nicht an sie denken, mögen sie zur beschaulichen Wissenschaft gehören, die, wie ich darlegte, im eigentlichen Sinne Weisheit genannt werden muß, mögen sie zur tätigen Wissenschaft gehören, die Wissenschaft im eigentlichen Sinne genannt werden muß. Beide gehören ja zusammen dem einen Geiste an und sind ein Bild Gottes. Wenn man hingegen vom niederen Teil des Geistes gesondert und für sich handelt, dann darf man ihn nicht Bild Gottes heißen, wenngleich auch dann in ihm irgendeine Ähnlichkeit mit jener Dreieinheit sich vorfindet. Ich habe das im dreizehnten Buche gezeigt.1 Jetzt sprechen wir also vom gesamten Wissen des Menschen S. 276 zugleich, in dem uns alles bekannt ist, was immer uns bekannt ist. Sicherlich ist dies alles wahr; sonst wäre es ja nicht bekannt. Niemand hat nämlich von Falschem ein Wissen, es sei denn, daß er weiß, daß es sich um Falsches handelt. Wenn er dies weiß, dann ist wahr, was er weiß; wahr ist nämlich, daß jenes falsch ist. Über die Dinge also handeln wir jetzt, die uns bekannt sind, wenn wir an sie denken, und die uns bekannt sind, auch wenn wir nicht an sie denken. Freilich, wenn wir sie aussprechen wollen, dann können wir das sicherlich nur, wenn wir an sie denken. Denn wenn auch keine Worte ertönen, so spricht doch, wer denkt, in seinem Herzen. Daher heißt es im Buche der Weisheit: „Sie sprechen bei sich, indem sie verkehrt denken.“2 Die Schrift erklärt nämlich die Worte: „Sie sprechen bei sich“, indem sie hinzufügt: „indem sie denken.“ Ähnlich heißt es im Evangelium, daß einige Schriftgelehrte, als sie hörten, wie der Herr zum Gichtbrüchigen sprach: „Habe Vertrauen, mein Sohn, deine Sünden werden dir vergeben“, bei sich sagten: „Dieser lästert Gott.“3 Was heißt: „Sie sagten bei sich“ anderes als: Sie dachten. Schließlich folgt: „Als Jesus ihre Gedanken sah, sagte er: Warum denkt ihr Böses in euren Herzen?“4 So Matthäus. Lukas aber berichtet diesen Vorgang so: „Da begannen die Pharisäer und Schriftgelehrten zu denken, indem sie sagten: Wer ist dieser, der da Lästerungen ausspricht? Wer kann Sünden vergeben, als Gott allein? Als er aber ihre Gedanken erkannte, antwortete er und sagte zu ihnen: Was denkt ihr Böses in euern Herzen?“5 Was im Buche der Weisheit das Wort besagt: „Sie sprechen, indem sie denken“, das besagt hier das Wort: „Sie dachten, indem sie sagten.“ Hier und dort wird nämlich gezeigt, daß sie bei sich in ihrem Herzen sprechen, das heißt, daß sie sprechen, indem sie denken. Sie sprachen nämlich bei sich, und es wurde ihnen gesagt: „Was denkt ihr?“ Und von jenem Reichen, dessen Acker eine S. 277 reichliche Ernte brachte, sagte der Herr: „Und er dachte bei sich, indem er sprach.“6
18. Manches Denken ist also ein Sprechen des Herzens. Daß dabei auch der Mund eine Rolle spielt, zeigte der Herr mit den Worten: „Nicht was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Munde herauskommt, verunreinigt ihn.“7 In einem Ausspruche hat er gewissermaßen den zweifachen Mund des Menschen zusammengefaßt, den Mund des Leibes und den Mund des Herzens. Denn sicherlich geht das, was nach der Meinung jener Leute den Menschen verunreinigt, durch den Mund des Leibes ein; was aber nach der Versicherung des Herrn den Menschen verunreinigt, kommt aus dem Munde des Herzens heraus. So erklärte er ja selbst, was er gesagt hatte. Denn gleich darauf sagte er zu seinen Jüngern hierüber: „Seid auch ihr noch ohne Verständnis? Seht ihr denn nicht ein, daß alles, was in den Mund eingeht, in den Magen kommt und dann seinen natürlichen Ausgang nimmt?“8 Hier meinte er ganz offenkundig den Mund des Leibes. Im folgenden jedoch weist er auf den Mund des Herzens hin, wenn er sagt: „Was aber aus dem Munde herauskommt, das kommt vom Herzen, und das verunreinigt den Menschen. Vom Herzen nämlich kommen die bösen Gedanken“9 usw. Was ist leichter als diese Erklärung? Nicht ist jedoch das Denken, weil wir es ein Sprechen des Herzens nennen, nicht zugleich auch eine Schau, die ihren Entstehungsgrund in der Schau des Wissens hat, wenn sie Wahrheit enthält. Wenn solche Schauungen draußen durch den Körper geschehen, dann ist etwas anderes das Sprechen, etwas anderes die Schau. Wenn wir aber drinnen einen Gedanken bilden, dann ist Schau und Sprechen eins. So sind ja auch Hören und Schauen zwei voneinander verschiedene, in gesonderten Leibessinnen sich vollziehende Vorgänge; in der Seele aber ist nicht etwas anderes das Schauen, etwas S. 278 anderes das Hören. Während daher das äußere Sprechen nicht gesehen, sondern vielmehr gehört wird, wurden, wie das Evangelium sagt, die inneren Worte, das heißt die Gedanken, vom Herrn gesehen, nicht gehört: „Sie sprachen“, so erzählt es, „bei sich: Dieser lästert Gott.“ Dann fügt es bei: „Und als der Herr ihre Gedanken sah.“10 Er sah also, was sie sagten. Er sah nämlich durch sein Denken ihre Gedanken, die sie allein zu sehen glaubten.
19. Wer also das Wort einsehen kann, nicht nur bevor es erklingt, sondern auch bevor die Bilder seines Klanglautes im Denken hin und her gewendet werden — dieser Vorgang vollzieht sich nämlich nicht in einer jener Sprachen, die man die Nationalsprachen nennt, unter denen die unsrige die lateinische ist — wer, sage ich, das einsehen kann, der kann in diesem Spiegel und in diesem Rätselbilde schon eine ferne Ähnlichkeit mit jenem Worte sehen, von dem es heißt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“11 Es muß nämlich, wenn wir die Wahrheit sprechen, das heißt, wenn wir sprechen, was wir wissen, aus eben dem Wissen, welches unser Gedächtnis enthält, das Wort geboren werden, das durchaus von jener Art ist, von der das Wissen ist, von dem es geboren wird. Der von dem gewußten Gegenstand geformte Gedanke ist nämlich das Wort, das wir im Herzen sprechen. Dies ist nicht griechisch, nicht lateinisch, noch einer sonstigen Sprache zugehörig. Wenn es aber denen, mit denen wir sprechen, zur Kenntnis gebracht werden soll, dann nimmt es ein Zeichen an, um durch es bezeichnet zu werden. Meist wird ein Klanglaut, manchmal auch ein Wink, der erste für die Ohren, der zweite für die Augen, verwendet, damit durch körperliche Zeichen auch den Leibessinnen das Wort, das wir im Herzen tragen, bekannt werde. Winken bedeutet ja nichts anderes als auf eine gewisse Weise sichtbar sprechen. S. 279 In der Heiligen Schrift findet sich ein Zeugnis für diese Anschauung. Im Johannesevangelium liest man nämlich so: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, einer von euch wird mich verraten. Da schauten die Jünger einander an und wußten nicht, von wem er rede. Einer von seinen Jüngern, der, den Jesus liebte, lag an seiner Brust. Dem winkte Simon Petrus zu und sagte zu ihm: Wer ist es, von dem er spricht?“12 Siehe, indem er winkte, sagte er, was er mit Worten nicht laut zu sagen wagte. Diese und ähnliche körperliche Zeichen verwenden wir für die Ohren und Augen derer, die anwesend sind, wenn wir mit ihnen sprechen. Es wurden aber die Buchstaben erfunden, damit wir uns auch mit den Abwesenden unterhalten können. Sie sind Zeichen der Laute, während die Laute in unserer Rede selbst Zeichen der Dinge sind, die wir denken.
