1. Kap. Veranlassung der Schrift. Die Juden sind von Gott abgefallen und haben das Heil zurückgestoßen. Deshalb ist die Berufung an die Heiden ergangen.
S. 301Kürzlich trug es sich zu, daß ein Christ und ein jüdischer Proselyt in eine Disputation miteinander gerieten. Beide zerrten das Seil des Haders abwechselnd hin und her1 und brachten damit den Tag bis zum Abend hin. Da auch andere aus der Partei beider mit hineinredeten, so wurde die Wahrheit etwas durch Nebelwolken verdunkelt. Es schien mir also gut, das, was bei dem Durcheinanderreden im Disputieren nicht recht in klares Licht hatte gestellt werden können, sorgfältiger zu untersuchen und die nochmals behandelten Fragen mit der Feder fürs Lesen zum Abschluß zu bringen. Die Gelegenheit, die göttliche Gnade auch den Heiden zuzusprechen, erlangte den Anspruch, hierbei an erster Stelle berücksichtigt zu werden, dadurch, daß ein jüdischer Mann von nicht israelitischer, sondern heidnischer Herkunft es war, der das Gesetz Gottes für sich in Beschlag zu nehmen versucht hatte.
Daß die Heiden zum Gesetz Gottes zugelassen werden können, wäre eigentlich schon ausreichend, Israel seinen Stolz darüber, daß die Heiden nur als der Tropfen am Eimer und der Staub von der Tenne angesehen werden2, in Zukunft zu benehmen. Jedoch wir haben sogar von Gott selbst ausreichende Verheißungen und genügende Bürgschaften dafür, indem er dem Abraham versprochen hat, daß in seinem Samen alle Nationen der Erde gesegnet werden, und daß aus dem Mutterschoße der Rebekka zwei Völker und zwei Stämme hervorgehen sollten, nämlich das jüdische, d. h. Israel, und das heidnische, welches wir sind. Beide empfingen die Benennung Volk und Stamm3, damit keins bloß seines Namens wegen das Privilegium der Gnade für sich in Anspruch zu nehmen wage. Gott hat nämlich gewollt, daß zwei Völker und zwei Stämme aus dem Mutterschoße eines einzigen Weibes hervorgingen, und nicht S. 302um des bloßen Namens willen einen Unterschied in der Gnade gemacht, sondern nur in der Geburt selbst, nämlich den, daß derjenige, welcher zuerst aus dem Mutterleibe hervorgehen würde, dem Jüngern, d, i. dem spätem, nachstehen sollte. Denn so sprach Gott zu Rebekka: „Zwei Völker sind in deinem Schöße und zwei Volksstämme werden aus deinem Leibe hervorgehen; das eine Volk wird das andere übertreffen und der ältere dem Jüngern dienen“. Da nun also das Volk oder der Stamm der Juden der Zeit nach früher war und durch die Gnade der früheren Beglückung mit dem Gesetz größer ist, das unsrige aber dem Alter und der Zeit nach jünger, weil es erst im letzten Zeitraum zur Kenntnis der göttlichen Erbarmung gelangte, so muß ohne Zweifel kraft der Verkündigung des göttlichen Ausspruches das erste und ältere Volk, nämlich das jüdische, notwendig dem jüngeren dienen und das jüngere Volk, die Christen, das ältere übertreffen.
Denn nach den Berichten der göttlichen Schriften hat das Judenvolk, also das ältere, Gott verlassen und den Idolen gedient. Nachdem es Gott abgesagt hatte, war es den Idolen ergeben, da es zu Aaron sprach: „Mache uns Götter, die vor uns hergehen“4. Als nun das Gold von den Halsketten der Weiber und den Ringen der Männer eingeschmolzen und ein Ochsenkopf daraus hergestellt war, verließ das gesamte Israel Gott, erwies diesem Götzen Ehrerbietung und rief: „Das sind die Götter, die uns aus dem Lande Ägypten herausgeführt haben“5. In späteren Zeiten, als die Könige über sie herrschten, haben sie in derselben Weise mit Jeroboam goldene Kühe und die Haine verehrt und sich Baal geweiht. Damit ist bewiesen, daß sie zu allen Zeiten in der Urkunde der göttlichen Schrift als des Verbrechens der Götzendienerei schuldig bezeichnet werden. Unser Volk aber, das jüngere, d, h. das spätere, hat seine Götzen verlassen, denen es früher diente, und sich demselben Gott zugewendet, von welchem Israel, wie erwähnt, abwich. So hat das jüngere Volk, d. h. das S. 303spätere, das ältere Volk übertroffen; denn es erlangte die Gnade der göttlichen Erbarmung, von welcher sich Israel zurückgestoßen sieht.