XVIII.
1. Es würde zu weit führen, alle Einzelheiten aufzuzählen. Am Menschen gibt es kein Glied, das nicht des Bedürfnisses oder des Schmuckes wegen vorhanden wäre. Besonders auffallend ist es, daß alle dieselbe Körperform haben und doch jeder einzelne wieder abweichende Züge. So erscheinen wir alle - einander ähnlich und sind doch tatsächlich einander unähnlich. 2. Wie ist ferner die Art und Weise unserer Entstehung? Ist nicht der Fortpflanzungstrieb von Gott gegeben, ebenso wie die Erscheinung, daß die Mutterbrust bei Zeitigung der Frucht Milch gibt und der zarte Sprößling unter dem reichen Zufluß des Milchtaus heranwächst? 3. Doch nicht bloß für das Ganze sorgt Gott, sondern auch für die Teile. Britannien hat Mangel an Sonnenwärme; dafür erhält es durch das laue Meer ringsum eine mildere Temperatur. In Ägypten mäßigt der Nilstrom die Trockenheit; Mesopotamien entschädigt der Euphrat für die fehlenden Regengüsse. Dem Orient liefert der Indusfluß, sagt man, Samen und Wasser. 4. Wenn du in ein Haus kämest und sähest alles S. 163 wohl eingerichtet, geordnet und geschmückt, so würdest du doch sicher annehmen, ein Herr walte darin viel vorzüglicher als alle jene guten Dinge. Ebenso sei versichert: auch im Hause der Welt, in welchem du am Himmel und auf der Erde eine weise Vorsicht, Ordnung und Gesetzmäßigkeit erkennst, ist ein Herr und Vater des Weltalls, der schöner ist als selbst die Gestirne und alle einzelnen Teile des Weltganzen.
5. Doch vielleicht meinst du, weil über die Existenz einer Vorsehung kein Zweifel obwalten kann, erforschen zu müssen, ob das himmlische Reich durch die Macht eines Einzigen oder durch den Willen einer Mehrheit regiert wird. Aber das klarzustellen ist nicht schwer; man darf nur die irdischen Reiche überdenken, welche jedenfalls ihr Muster im Himmel haben. 6. Wann hat je die Teilung einer Herrschaft mit Vertrauen begonnen und ohne Blut geendet? Ich will nicht reden von den Persern, welche nach dem Rossewiehern den Vorrang zuteilten, will schweigen von der veralteten Fabel vom Thebanerpaar. Weltbekannt ist die Erzählung über die Zwillingsbrüder, die Herrschaft über Hirten und Hütte betreffend. Die Kämpfe zwischen Schwiegersohn und Schwiegervater überfluteten den ganzen Erdkreis und das Geschick eines so großen Reiches bot nicht Raum für zwei. 7. Sieh weiterhin: Eine Königin haben die Bienen, einen Führer die Herden, einen Leitstier die Zugtiere. Du glaubst, daß im Himmel die höchste Macht geteilt ist und die Gewalt jener wahren, göttlichen Majestät gespalten ist. Aber es ist sonnenklar, daß Gott der Vater aller S. 164 weder einen Anfang noch ein Ende hat. Er verleiht allen Dingen Dasein, sich selbst Unendlichkeit; er war vor der Welt sich selbst eine Welt. Er regiert durch sein Wort alles, was ist, ordnet es durch seine Vernunft und vollendet es durch seine Macht. 8. Man kann ihn nicht sehen; er ist zu licht für das Auge. Ebensowenig kann er betastet werden, denn er ist für die Berührung zu fein; auch nicht gemessen werden, denn er ist über unsere Sinne erhaben, unendlich, unermeßlich und nur sich selbst in seiner ganzen Größe bekannt. Unser Herz aber ist zu beschränkt, um ihn zu begreifen und deshalb schätzen wir ihn so am besten, wenn wir ihn unschätzbar nennen. 9. Ich möchte sprechen, wie ich denke: Wer Gottes Größe zu kennen glaubt, schmälert sie; wer sie nicht schmälern will, kennt sie nicht. 10. Man suche auch keinen Namen für Gott: „Gott“ ist sein Name. Nur da braucht man mehrere Worte, wo man die Einzelwesen in der Mehrheit durch besondere kennzeichnende Benennungen unterscheiden muß: dem Gott, welcher nur Einer ist, gehört das Wort „Gott“ ganz allein an. Wenn man ihn z. B. Vater nennt, so könnte man an einen fleischlichen Vater denken; wenn König, so könnte man einen irdischen vermuten; wenn Herrn, so wird man sicherlich ein sterbliches Wesen darunter verstehen. Laß die Namenszutaten weg und du wirst ihn in seiner vollen Klarheit schauen.
11. Übrigens herrscht in diesem Punkt nicht allgemeine Übereinstimmung? Ich horche auf das gewöhnliche Volk. Wenn es zum Himmel seine Hände emporhebt, sagt es nichts anderes als „Gott“ und „Gott ist groß“ und „Gott ist wahrhaftig“ und „so Gott will“. Ist das die natürliche Ausdrucksweise des Volkes oder das Gebetet eines gläubigen Christen? Auch wer Jupiter als Oberherrn anerkennt, täuscht sich im Namen, nimmt aber mit uns eine einheitliche Macht an.
