Dritter Brief.
S. 64Seine teure Mutter1 Bassula grüßt Sulpicius Severus.
Ginge es an, Eltern gerichtlich zu belangen2 , so würde ich entschieden dich mit wohlberechtigtem Schmerze wegen Diebstahl und Raub vor den Richterstuhl des Prätor ziehen. Warum sollte ich nicht Klage führen? Welches Unrecht erleide ich von dir! Du hast mir kein Blatt Papier, keine Abhandlung, keinen Brief im Hause gelassen, so raubst du alles, so bringst du alles an die Öffentlichkeit. Schreibe ich ein vertrauliches Wort an einen Freund, diktiere ich zufällig etwas zum Zeitvertreib, was ganz unter uns bleiben sollte, alles kommt doch, beinahe noch bevor es geschrieben oder diktiert ist, in deine Hände. Natürlich! Du hast ja meine Schreiber bestochen; sie spielen dir meine wertlosen Träumereien3 in die Hände. Doch nicht gegen diese kann ich mich ereifern, wenn sie dir zu Willen sind; brachte sie ja gerade deine Freigebigkeit in meinen Dienst, und deshalb mußten sie sich mehr als deine denn meine Diener betrachten. Du allein trägst die Schuld, du allein verdienst Strafe. Mich hintergehst du, und jene umgarnst du, daß sie dir ohne Auswahl vertrauliche oder nachlässig hingeworfene Zeilen ausliefern, bevor sie gehörig durchgearbeitet und gefeilt sind. Denn, um von anderem zu schweigen, ich frage dich, wie konnte jener Brief so rasch in deine Hände kommen, den ich kürzlich an den Diakon Aurelius4 schrieb? Ich war in Toulouse, du befandest dich zu Trier und wärest soweit vom heimatlichen Boden getrennt, daß sich S. 65dein Sohn darüber beunruhigte. Wie war es dir denn möglich, jenen Freundesbrief zu stehlen? Ich habe ja von dir einen Brief erhalten, darin sagst du, jenes Schreiben, in dem ich auf den Tod des hl. Martinus zu sprechen kam, hätte gerade den Hingang des heiligen Mannes schildern sollen. Habe ich denn jenen Brief für jemand anders zum Lesen bestimmt als für jenen, an den er augenscheinlich gerichtet war? Oder bin gerade ich zu der schweren Arbeit verurteilt, über alles, was an Martinus bemerkenswert ist, zu schreiben und es der Welt zu verkünden? Wenn du also etwas über den Tod des heiligen Bischofs erfahren willst, erkundige dich lieber bei denen, die dabei waren. Ich habe mir fest vorgenommen, dir nichts zu schreiben, damit du mich nicht in aller Leute Mund bringest. Und doch will ich kurz deinem Wunsche nachgeben, wenn du mir das Versprechen gibst, daß du es niemand vorliest5 . Unter dieser Bedingung will ich dich wissen lassen, was ich in Erfahrung gebracht habe.
Martinus wußte seinen Hingang schon lange vorher, er kündigte den Brüdern an, seine Auflösung sei nahe. Inzwischen machte es ihm ein Vorkommnis zur Pflicht, die Pfarrei Candes6 zu besuchen. Unter den Klerikern jener Kirche war nämlich ein Zwiespalt ausgebrochen. Martinus war von dem Wunsche beseelt, den Frieden wiederherzustellen, und so ließ er sich nicht abhalten, zu einem solchen Zweck abzureisen, obwohl ihm das nahe Ende seiner Tage bekannt war. Wenn er der Kirche den Frieden wiederschenke und hinterlasse, so könne er darin die Krönung seiner Tugendverdienste sehen. So machte er sich denn auf den Weg, wie gewöhnlich begleitet von einer großen, frommen Jüngerschar. Unterwegs sah er, wie in einem Flusse7 Tauchervögel auf Fische Jagd machten. Ihr gefräßiger Kropf war mit einer Unmenge erbeuteter Fische ganz vollgestopft. Da sprach Martinus: „Das ist ein Bild der Teufel: sie stellen S. 66den Sorglosen nach, fangen die Achtlosen, verschlingen die Beute und können sich am Fräße doch nicht ersättigen“. Dann gebot er den Vögeln mit machtvollem Worte, sie sollten die Gewässer, auf denen sie schwammen, verlassen und ausgedörrte, öde Landstriche aufsuchen. Er zeigte hierbei diesen Vögeln gegenüber dasselbe Machtgebot, mit dem er gewöhnlich die Teufel in die Flucht jagte. Sofort scharten sich die Vögel zusammen, verließen alle auf einmal den Fluß und zogen den Bergen und Wäldern zu. Viele wunderten sich, an Martinus eine solche Wunderkraft zu beobachten, daß er sogar den Vögeln gebieten konnte.
Martinus verblieb einige Zeit an jenem Orte, bei jener Kirche, zu der er sich begeben hatte, und stellte den Frieden unter den Klerikern wieder her. Schon dachte er daran, zum Kloster zurückzukehren, als ihn ganz unerwartet die Körperkräfte verließen. Er rief die Brüder herbei und erklärte ihnen, er fühle sein Ende nahe. Wehmut und Trauer erfaßte da alle. Schluchzend sprachen alle zu ihm: „Vater, warum verlassest du uns? Wem vertrauest du uns an in unserer Trostlosigkeit? Räuberische Wölfe8 werden in deine Herde einbrechen. Wer wird uns vor ihren Zähnen schützen, wenn der Hirt geschlagen ist?9 Wohl wissen wir, daß dich sehnsüchtig nach Christus verlangt. Doch dein Lohn ist dir ja gesichert; auch wenn er hinausgeschoben würde, verringerte er sich nicht. Hab vielmehr Mitleid mit uns, die du zurücklassest“. Solche Klagen rührten Martinus, und da er wie immer von Erbarmen ganz überfloß10 , soll er in Tränen ausgebrochen sein. Er wandte sich dann zum Herrn und sprach als Antwort auf die Tränen: „Herr, bin ich für dein Volk noch notwendig, so weigere ich mich der Mühsal nicht, dein Wille geschehe“. Zwischen Hoffen und Bangen schwankend, war er ganz im unklaren, was er vorziehen solle; wollte er doch auf der einen Seite sie nicht verlassen, auf der andern auch S. 67nicht länger von Christus ferne sein. Allein er überließ sich in nichts seinem eigenen Wunsch und Willen, sondern gab sich ganz dem freien, unumschränkten Ermessen Gottes anheim. Darum betete er: „Mein Gott, hart ist zwar der Kriegsdienst und Kampf im Fleische, und es ist genug an dem, was ich bislang gestritten. Allein, wenn du mir befiehlst, daß ich für deine Sache in derselben Mühsal noch weiter ausharre, so weigere ich mich nicht und schütze nicht mein erlöschendes Leben vor. Die Pflicht, die du mir auferlegt hast, will ich getreu erfüllen und, solange du es willst, unter deiner Fahne streiten. Obgleich der Greis nach der harten Arbeit die Ruhe ersehnt, so obsiegt doch der Mut über die Jahre und will sich nicht beugen11 vor dem Greisenalter. Willst du aber jetzt auf mein Alter schonend Rücksicht nehmen, so ist dein Wille, Herr, eine Wohltat für mich. Du selbst wirst aber Schützer derer sein, für die ich bang besorgt bin“.
Ruhmwerter Held! Die Arbeit rang ihn nicht nieder, auch der Tod sollte ihn nicht bezwingen. Er fürchtete den Tod nicht, wies aber auch das Leben nicht zurück: nach keiner Seite neigte so die Entscheidung seines Willens.
Obwohl er schon mehrere Tage an heftigem Fieber litt, ließ er doch nicht ab vom Gotteslob. Betend durchwachte er die Nächte; er zwang die ermattenden Glieder, dem Geiste zu dienen. Er war auf seiner vornehmen Lagerstätte, auf Asche und einem Bußgewande, gebettet. Als die Jünger in ihn drangen, er solle wenigstens vganz gewöhnliches Stroh unter sich legen lassen, lautete seine Antwort: „Kinder, für einen Christen ziemt es sich, nicht anders als auf Asche zu sterben. Hinterlasse ich euch ein anderes Beispiel, so lastet eine Sünde auf mir“. Er hatte Augen und Hände unverwandt zum Himmel gerichtet, keinen Augenblick ließ der Unüberwindliche vom Gebete ab. Die herbeigeeilten Priester baten ihn, er solle sich auf die andere Seite legen und so dem Leib eine kleine Erleichterung verschaffen. Darauf entgegnete er: „Laßt mich, Brüder, S. 68laßt mich lieber zum Himmel als zur Erde blicken, damit mein Geist, der sich schon anschickt, zum Herrn zu gehen, die Richtung einhalte“. Nach diesen Worten sah er den Teufel neben sich stehen. „Was stehst du hier, blutdürstige Bestie“, sprach er da, „Unheilstifter, du wirst an mir nichts finden12 . Mich nimmt der Schoß Abrahams13 auf“.
Bei diesen Worten gab er seinen Geist auf. Die dabei waren, haben mir bezeugt, sie hätten sein Antlitz leuchten sehen wie das eines Engels. Seine Glieder erschienen weiß wie Schnee, so daß es hieß: wer könnte glauben, daß er je ein Bußgewand getragen und auf Asche gebettet war? Es war eben, als ob an ihm die Herrlichkeit der künftigen Auferstehung und die Beschaffenheit des verklärten Leibes wahrzunehmen wäre.
Zur Leichenfeier strömte eine unglaublich große Menschenmenge zusammen. Die ganze Stadt eilte der Leiche entgegen; von den Höfen und Ortschaften waren alle herbeigekommen, viele auch aus den benachbarten Städten. Wie groß war die allgemeine Trauer und wie klagten erst die betrübten Mönche! Es sollen gegen zweitausend an jenem Tag zusammengekommen sein, die auserlesene Ehrenkrone14 des Martinus; so zahlreich war die Nachkommenschaft, die, durch sein Beispiel angezogen, sich dem Dienste des Herrn geweiht hatte. Die Herde ging vor ihrem Hirten einher, die bleichen Gestalten15 jener gottgeweihten Schar, im faltigen Mönchsgewande, Greise, im Lebenskampf erprobt, oder Anfänger, auf die Fahne Christi erst vereidigt16 . Es folgte die Schar der Jungfrauen, in züchtiger Scheu kämpften sie ihre Tränen nieder. Wie verstanden sie es doch, unter heiliger Freude den Schmerz zu verbergen! Der Glaube verwehrte ihnen ja die Tränen, allein die Liebe S. 69erpreßte Seufzer. So heilig das Frohlocken war über seine Glorie, so innig war auch die Trauer über seinen Hingang. Da mußte man mit den Weinenden Nachsicht haben, den Frohlockenden Glück wünschen. Ein jeder trauerte ja um seiner selbst willen und freute sich um jenes willen.
Dieses Geleite führte die Leiche des heiligen Mannes unter himmlischen Gesängen zur letzten Ruhestätte17 . Wem es gefällt, der soll damit vergleichen den weltlichen Glanz, ich will nicht sagen bei einem Leichenbegängnis, nein, bei einem Triumphzug. Was reicht heran an die Leichenfeier des Martinus? Mögen die Triumphatoren vor ihren Wagen Gefangene einherziehen lassen, denen die Hände auf den Rücken gebunden sind — der Leiche des Martinus folgten die, die unter seiner Führung die Welt überwunden hatten. Mögen jene vom tollen Beifallsgeschrei der Menge geehrt werden, dem Martinus jubelte man zu mit göttlichen Psalmen, Martinus huldigte man mit himmlischen Gesängen. Jene sahen sich nach ihrem Triumph in die finstere Unterwelt gestoßen, Martinus wurde überströmend von Freude in Abrahams Schoß aufgenommen. Martinus, hier arm und demütig bescheiden, geht reich in den Himmel ein. Ich hoffe, daß er von dort aus uns beschützt, daß er auf uns herniederschaut, auf mich, der ich das schreibe, und auf dich, der du es liesest.
Genauer gesagt Schwieger- und Adoptivmutter. ↩
Nach römischem Recht war es verboten, Eltern oder Adoptiveltern gerichtlich zu belangen, vgl. Digest. 1. II tit. IV n. 4. ↩
Über solche Äußerungen s. oben S. 9 ↩
Der 2. Brief. ↩
Vgl. Vita Prol. 2. ↩
Am Zusammenfluß der Vienne und Loire, 44 km von Tours entfernt [Longnon 271 f.]. ↩
Die Loire. ↩
Es scheint Brictio, der Nachfolger des hl. Martinus, dessen Schüler dann wirklich vertrieben zu haben, s. Dial. III, 15. ↩
Matth. 26, 31. ↩
„Misericordiae visceribus“ aus Koloss. 3, 12. ↩
„Cedere nescius“ wohl aus Horat. Odae I, 6, 6. ↩
Vgl. Joh. 14, 30 in altlateiaischer Version „inveniet“, vgl. Sabatier, Bibl. s. lat. versiones antiq. III [Paris 1749] zu dieser Stelle. ↩
Luk. 16, 22. ↩
Vgl. Philipp. 4, 1. ↩
Ähnlich Paul. Ep. XXII, 2 und Salvian, De gubern. VIII, 4. ↩
Wohl Kateohumenen, die durch die Taufe milites Christi werden, vgl. Vita 4, 4; Dial. II, 11. ↩
Über die vielumstrittene Frage nach der Zeit seines Todes s. oben S. 12. Gregor von Tours [Hist. Franc. I, 48] erzählt den Hergang in anderer, wohl legendenhafter Form: es habe sich zwischen den Bewohnern von Poitiers und Tours ein Streit erhoben, wer den Leichnam des Heiligen bekomme. Als die Pictaver schliefen, hätten die Turonen ihn heimlich fortgenommen und zu Schiff in ihre Stadt gebracht. ↩
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