22. Wir müssen die körperliche Enthaltsamkeit üben, um zur Nüchternheit des Geistes zu gelangen.
Seien wir also überzeugt, daß wir deßhalb unsere Mühe auf die körperliche Enthaltsamkeit verwenden müssen, um durch dieses Fasten zur Reinheit des Herzens gelangen zu können. Uebrigens wenden wir diese Mühe vergebens an, wenn wir zwar dieselbe durch die Betrachtung des Zieles unermüdlich ertragen, das Ziel selbst aber, wegen dessen wir so große Mühsalen ertragen haben, nicht zu erreichen vermögen. Ja, es wäre besser gewesen, die verbotenen Speisen der Seele gemieden zu haben, als in Bezug auf freigestellte und weniger schädliche Speisen körperlich gefastet zu haben. Denn hier ist es der einfache und unschädliche Genuß eines Geschöpfes Gottes, der an und für sich nichts Sündhaftes an sich trägt; dort ist es aber in erster Linie ein verderbliches Verschlingen der Brüder, von dem es heißt: „Liebe nicht die Verläumdung, damit du nicht mit der Wurzel ausgerissen werdest.“1 Und vom Zorn und Neid sagt der selige Job:2 „Einen Thoren bringt der Jähzorn um, und einen Einfältigen tödtet der Neid.“ Zugleich sei bemerkt, daß der, welcher zürnt, für einen Thoren, und wer neidisch ist, für einen Einfältigen gilt. Denn nicht mit Unrecht gilt Jener für thöricht, da er von dem Stachel des Zornes gereizt sich freiwillig den Tod zuzieht; und Dieser beweist sich als einen S. 118 einfältigen und unfähigen Menschen dadurch, daß er vor Neid gelb wird. Denn durch seinen Neid bezeugt er, daß Derjenige größer ist, über dessen Glück er sich quält.
