14.
Ich muß jetzt noch zu beweisen versuchen, wie die Söhne Mariä, der Tante Jesu, die anfangs nicht glaubten, später aber geglaubt haben, Brüder des Herrn genannt werden können. [Es kann auch sein, daß einer sofort glaubte und die übrigen lange ungläubig waren.] S. 279Weiter muß ich noch dartun, wie dieselbe Person, nämlich Maria Kleophae, des Alphäus Gattin Mutter des Jakobus und Joses, und Maria, die Mutter des jüngeren Jakobus heißen könne. Wenn sie die Mutter des Herrn wäre, dann würde der Evangelist, wie er es immer tut sie in erster Linie auch als seine Mutter bezeichnet haben. Er würde sie nicht als Mutter dieser beiden genannt aber als Mutter eines anderen, nämlich Jesu, verstanden haben. Doch darüber will ich nicht weiter rechten, ob Maria Kleophae und Maria, des Jakobus und Joses Mutter, verschiedene Personen waren. Es genügt, wenn feststeht, daß Maria, des Jakobus und Joses Mutter, nicht identisch ist mit der Mutter des Herrn. „Und mit welchem Recht“, fragst du, „hat man solche, die keine Brüder waren, Brüder des Herrn genannt?“ Jetzt schon sollst du vernehmen, daß dem Worte Bruder in den göttlichen Schriften vier Bedeutungen zukommen. Es bezeichnet den natürlichen Bruder, die Zugehörigkeit zu demselben Volke, die Verwandtschaft und ein auf Zuneigung gründendes Verhältnis. Natürliche Brüder sind Jakob und Esau, die zwölf Patriarchen, Andreas und Petrus, Jakobus und Johannes. Die Zugehörigkeit zu einem Volke kommt zum Ausdruck, wenn alle Juden untereinander Brüder genannt werden. So heißt es im Deuteronomium: „Wenn du aber deinen Bruder, d. h. einen Hebräer oder eine Hebräerin, gekauft hast, dann soll er dir sechs Jahre dienen und im siebenten Jahre sollst du ihn freilassen“1 . In demselben Buche finden wir die Stelle: „Du sollst über dich einen Fürsten setzen, den der Herr, dein Gott, erwählt hat, und er soll aus deinen Brüdern genommen sein. Denn nicht kannst du einen Fremdling über dich setzen, weil er nicht dein Bruder ist“2 . Und anderwärts: „Siehst du, daß das Kalb deines Bruders oder sein Schaf sich auf dem Wege verirrt hat, so gehe nicht achtlos vorüber. Deinem Bruder sollst du es zurückführen. Wenn dein Bruder aber nicht in deiner Nähe wohnt und dir unbekannt ist, dann nimm es in dein S. 280Haus, und es soll bei dir bleiben, bis es dein Bruder fordert. Dann gib es ihm zurück“3 . Der Apostel Paulus sagt: „Ich wünschte selbst im Bann zu sein, los von Christus, für meine Brüder, die mir verwandt sind dem Fleische nach, für die Israeliten“4 . Brüder heißen auch die Verwandten, die aus einer Familie oder aus einem Geschlecht stammen. Für dieses Verhältnis haben die Lateiner die Bezeichnung „paternitas“, da aus einer Wurzel eine weitverzweigte Familie hervorgeht. In diesem Sinne lesen wir in der Genesis: „Es sprach aber Abraham zu Lot: Fern sei Streit zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten, weil wir Brüder sind“5 . Da heißt es auch: „Und es erwählte sich Lot die Gegend am Jordan, und Lot brach gegen Osten auf, und es schied ein jeglicher von seinem Bruder“6 . In Wirklichkeit ist aber Lot nicht Abrahams Bruder, sondern der Sohn von dessen Bruder Aram; denn Thare hatte Abraham, Nachor und Aram gezeugt, Aram aber den Lot7 . Eine andere Schriftstelle lautet: „Abraham war aber fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran auswanderte. Und Abraham nahm seine Gattin Sara und Lot, den Sohn seines Bruders, mit sich“8 . Solltest du noch zweifeln, daß Bruder gleich Bruderssohn genommen sein kann, dann vernimm folgenden Beweis: „Als jedoch Abraham gehört hatte, daß sein Bruder Lot gefangen fortgeschleppt worden war, zählte er seine Hausleute, dreihundertundachtzehn“9 . Nach der Schilderung des nächtlichen Blutbades geht es weiter: „Und er führte die gesamte Habe der Sodomiter zurück und nahm seinen Bruder Lot mit sich“10 . Diese Stellen möchten zum Beweise meiner Behauptung genügen. Damit du aber keine Ausflüchte machst und wie eine schlüpfrige Schlange entwischst, mußt du gleichsam mit einer ganzen Kette von Beweisen erdrückt werden. Dann kannst du nicht klagen und heimtückisch bemerken, nicht durch die Wucht der Schriftzeugnisse, sondern durch eine S. 281gewundene Beweisführung seiest du widerlegt worden. Jakob, der Sohn Isaaks und Rebekkas, fürchtete die Nachstellungen seines Bruders und machte sich auf nach Mesopotamien. Er kam an, wälzte den Stein von der Öffnung des Brunnens und tränkte die Schafe Labans, des Bruders seiner Mutter. Und es küßte Jakob die Rachel; er weinte laut auf und teilte der Rachel mit, daß er der Bruder ihres Vaters und Rebekkas Sohn sei„11 . Wie du siehst, wird auch hier nach der bereits erwähnten Sitte der Schwestersohn als Bruder bezeichnet. Und weiter lesen wir: “Es sprach aber Laban zu Jakob: „Weil du mein Bruder bist, so sollst du mir nicht umsonst dienen. Bestimme deinen Lohn“12 . Und als er nach zwanzig Jahren ohne Vorwissen seines Schwiegervaters in Begleitung seiner Gattinnen und Kinder in sein Vaterland zurückkehrte, da holte ihn Laban am Gebirge Galaad ein. Als dieser unter den Gepäckstücken die Götzen, welche Rachel verborgen hielt, suchte, ohne sie zu finden, da antwortete Jakob und sprach zu Laban: „Worin besteht meine Schuld, und welches ist mein Vergehen, um dessentwillen du mich verfolgt hast? Warum hast du alle meine Gerätschaften durchsucht? Was hast du von deinem gesamten Eigentum gefunden? Lege es vor deine und meine Brüder, und sie mögen zwischen uns beiden richten“13 . Antworte mir: „Wer sind denn diese Brüder Jakobs und Labans, die damals zugegen waren?“ Esau, Jakobs natürlicher Bruder, war abwesend, und Laban, Bathuels Sohn, besaß außer Rebekka keine Geschwister.
