Nr. 9
Doch was sprechen wir von den irdischen Makeln, mit denen ihr die große Mutter besudelt habt, da ihr hinsichtlich der Schmähungen auf Jupiter eine Pause oder Unterbrechung für kurze Zeit machen konntet. Als damals die Göttergebärerin auf des Agdos oberstem Gipsel schlief, da, sagt ihr, ist der Sohn als Nachsteller hinaufgekommen, um der Ruhenden Keuschheit zu überraschen. Nach so unzähligen ihrer Reinheit beraubten Jungfrauen und Matronen faßte Jupiter auch noch die Hoffnung unerhörter Begierde zur Mutter, und nicht vermochte ihn von dem glühenden Verlangen nach ihr der Schauder abzuwenden, den nicht den Menschen allein, sondern auch manchen Thieren die Natur selbst und jener insgesammt eingeborene Sinn verliehen hat. Mangelte etwa dem wohlehrbaren Vorsteher der Kapitolier die Achtung kindlichen Pflichtgefühls und konnte er mit seinem durch Brunst verworrenen Gemüthe die von ihm begehrte Lasterthat weder überlegen noch einsehen? Die Sache aber verhält sich also: des Ernstes und der Majestät vergessend, geht er schleichend auf jenen schändlichen Raub aus; ängstlich und zagend, mit unterdrücktem Athem, mit vor Furcht schwebenden Schritten, und zwischen Zagen und Hoffen schwankend erbebt er vor Lüsternheit, des Schlafes Tiefe und der Mutter Nachgiebigkeit erprobend. O der unfläthigen Vorstellung! O der schmachvollen Stellung Jupiters, der bereit ist zur Vollbringung des unsittlichen Kampfes. Jener Herrscher der Welt, unvermuthet und eilfertig von seinem Raube durch Ueberschleichung zurückgeworfen, wendet sich also zum offenen Angriff: und da er die Lust nicht durch hinterlistigen Betrug entreißen kann, so geht er mit Gewalt seiner Mutter zu Leibe und beginnt offen ihre ehrwürdige Keuschheit zu zerstören. Nach sehr langem Ringen mit der Widerwilligen verläßt er gewältigt, entmuthigt und überwunden dieselbe, und den die Pietät nicht von der abscheulichen Gier der Mutter zu entlasten vermochte, trennte nun die vergossene Geilheit.
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