Zweiter Artikel. Die liebe ist die erste unter den Leidenschaften der Begehrkraft.
a) Dagegen spricht schon: I. Der Name. Denn „Begehrkraft“, concupiscentia, wird benannt nach dem Begehren. Also kommt vor allem ihr das Begehren oder Verlangen zu. II. Dionyfius, der (4. de div. nom.) die Liebe eine „einigende undsammelnde Kraft“ nennt. Das Verlangen aber ist die Bewegung zur Einigung hin; also ist es früher. III. Die Ursache ist früher als die Wirkung. Das Ergötzen aber ist bisweilen die Ursache der Liebe; denn viele lieben infolge der genossenen Ergötzung, wie 8 Ethic. 2 et 3 es heißt. Also ist das Ergötzen früher wie die Liebe. Auf der anderen Seite sagt Augustin (14. de civ. Dei 7. et 9.): „Alle Leidenschaften haben ihre Ursache in der Liebe. Die Liebe nämlich, welche trachtet um zu haben, was sie liebt, ist Begierde. Hat sie aber was sie begehrt und genießt sie es, so ist dies Freude.“ Also ist die Liebe die erste unter den Leidenschaften.
b) Ich antworte, die Gegenstände der Begehrkraft seien zuvörderst das Gute und das Böse. Seiner Natur nach aber ist das Gute früher wie das Böse, denn letzteres ist eben nur der Mangel an Gutem. Also sind vor allem jene Leidenschaften, deren Gegenstand das Gute ist, früher wie jene, deren Gegenstand das Böse ist. Und eine jede hat da ihren Gegensatz; denn weil das Gute verlangt wird, flieht man das Böse. Nun hat das Gute den Charakter des Zweckes, der nämlich früher ist in der Absicht als beabsichtigter, wie in der Ausführung als besessener. Also kann die Ordnung der Leidenschaften berücksichtigt werden entweder gemäß der Absicht oder gemäß der Ausführung und Erreichung. Gemäß der Ausführung ist Jenes früher, was zuerst geschieht in dem, der nach dem Zwecke strebt. Offenbar hat aber jedes Wesen, welches nach dem Besitze eines Zweckes strebt, zuerst in sich die Hinneigung zum Zwecke und ein gewisses Verhältnis zu selbem; denn nichts strebt nach einem Zwecke, zu dem es in keinem Verhältnisse steht. Dann hat es in sich die Bewegung zum Zwecke hin. Endlich ruht es aus im erreichten Zwecke. Die Hinneigung nun zum Zwecke hin ist die Liebe, die nichts Anderes ist wie das Gefallen am Zwecke. Die Bewegung zum Zwecke hin ist das Verlangen oder Begehren. Die Ruhe im Guten ist die Freude. Also geht gemäß der Ausführung voran die Liebe, es folgt das Begehren, es schließt die Freude. Gemäß der Absicht oder der Meinung ist das Umgekehrte der Fall. Die beabsichtigte Ergötzung nämlich verursacht das Verlangen und die Liebe. Denn das Ergötzen ist der Genuß des Guten, der gewissermaßen ebenso selber Zweck ist wie das Gute. (Kap. 11, Art. 3 ad II.)
c) 1. Wir benennen etwas, je nachdem es uns bekannt wird. Denn „die Worte sind“ nach Aristoteles (1 Perih.) „Zeichen des Verständnisses.“ Meistenteils aber erkennen wir vermittelst der Wirkung die Ursache. Die Wirkung der Liebe nun, wenn das Gute besessen wird, ist das Ergötzen; wenn es noch erstrebt wird, das Verlangen oder Begehren. Deshalb sagt Augustin (10. de Trin. 12.): „Die Liebe wird mehr empfunden, wenn das Bedürfnis sie verrät.“ Unter allen Leidenschaften der Begehrkraft also ist am meisten wahrnehmbar das Begehren; und deshalb wird diese Kraft selbst danach benannt. II. Die eine Einigung des Liebenden mit dem geliebten Gegenstande ist die in der thatsächlichen Wirklichkeit mit der Sache selbst; — und eine solche Einigung gehört zum Ergötzen, was dem Begehren folgt. Die andere Einigung ist die der Hinneigung des Liebenden zum geliebten Gegenstande, unio affectiva, weil, was im Verhältnisse steht zu etwas Anderem und Hinneigung dazu besitzt, schon gewissermaßen daranteilhat; — und so schließt die Liebe Einigung in sich ein und sie geht vorher der Bewegung des Begehrens. III. Das Ergötzen als beabsichtigt ist die Ursache der Liebe.
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