Erster Artikel. Der Zorn ist eine besondere, von den anderen unterschiedene Leidenschaft.
a) Dies scheint nicht der Fall zu sein. Denn: I. Vom Zorne kommt der Name „Abwehrkraft“ (irascibilis); da Zorn eben Abwehr ist. Dieses Vermögen schließt aber viele Leidenschaften in sich. II. Jeder besonderen Leidenschaft ist eine andere besondere entgegengesetzt. Dem Zorne aber ist keine entgegengesetzt. Also ist er keine besondere Leidenschaft. III. Die eine besondere Leidenschaft schließt nicht eine andere ein. Der Zorn aber schließt viele Leidenschaften in sich ein; denn er ist mit der Trauer, mit der Hoffnung, mit dem Ergötzen, wie Aristoteles sagt (2 Rhet. 2.) Auf der anderen Seite nimmt Damascenus (2. de orth. fide 16.) und Cicero (4 Tuscul.) den Zorn für eine besondere Leidenschaft.
b) Ich antworte, es werde von etwas das „allgemein“ behauptet: 1. nach der Weise der Aussage, wie z. B. „sinnbegabt“ das Allgemeine ist, welches von allen sinnbegabten Wesen ausgesagt wird; — 2. nach der Weise der wirkenden Ursache, wie z. B. die Sonne nach Dionysius (4. de nom. div.) die allgemeine Ursache für Alles ist, was hier in der vergänglichen Welt erzeugt wird; wie nämlich die allgemeine „Art“ viele unterschiedene Gattungen in sich enthält in ihrem Vermögen gemäß der Ähnlichkeit des weiter bestimmbaren, zum Werden passenden Stoffes, so enthält die wirkendeUrsache viele Wirkungen in sich gemäß der thätig eingreifenden Kraft. Nun geschieht es, daß eine Wirkung aus dem Zusammentreten vieler Ursachen hervorgeht. Und weil jede Ursache einigermaßen im Gewirkten bleibt, kann auch gesagt werden: 3. die Wirkung, welche der Verbindung vieler Ursachen entstammt, habe den Charakter des Allgemeinen, weil sie dem thatsächlichen Sein nach viele Ursachen in sich enthält. Nach der Weise der Aussage nun ist der Zorn keine allgemeine Leidenschaft, sondern sie steht unabhängig neben den anderen. Nach der Weise der wirkenden Ursache ist er auch nicht allgemein, denn er ist nicht die Ursache der anderen Leidenschaften. Dies ist vielmehr die Liebe als Wurzel aller. Nach der Weise der Wirkung aber kann der Zorn als allgemeine Leidenschaft bezeichnet werden, insofern er aus vielen Leidenschaften erzeugt wird. Denn nur weil ein Schmerz besteht, beginnt der Zorn; und nur weil Verlangen und Hoffnung besteht, sich zu rächen; denn (2 Rhet. 5.) „der Zornige hat Hoffnung, sich zu rächen.“ Er begehrt die Rache als etwas ihm Mögliches. Wenn sonach die den Schmerz bereitende Person sehr hoch steht, so folgt kein Zorn, sondern Trauer, (Avicenna de anima.)
c) I. Die Abwehrkraft hat von dem Wesen des Zornes ihren Namen; nicht als ob jede ihrer Leidenschaften Zorn wäre, sondern weil sie in allen ihren Bewegungen in den Zorn mündet und der Zorn in ihr am meisten offenbar ist. II. Weil der Zorn aus einander entgegengesetzten Leidenschaften erzeugt wird, von der Trauer nämlich und der Hoffnung, die auf das Gute geht, schließt er den Gegensatz in sich ein und hat keine ihm entgegenstehende Leidenschaft. III. Der Zorn schließt viele Leidenschaften ein nach der Ähnlichkeit der Wirkung, die viele Ursachen einschließt.
