Erster Artikel. Der Beweggrund des Zornes ist immer der Umstand, daß etwas gegen den Zürnenden geschehen ist.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Der Sünder kann nichts thun gegen Gott; wie es bei Job 35. heißt: „Und wenn deine Bosheiten vervielfältigt worden, was wirst du thun gegen Ihn, den Herrn?“ Jedoch wird gesagt von Gott, Er zürne den Menschen wegen ihrer Sünden. „In Zorn entbrannt ist der Herr gegen sein Volk,“ sagt Ps. 105. Also nicht immer ist die Thatsache, daß etwas gegen jemanden gethan worden, der Grund von dessen Zorn. II. Der Zorn ist ein Begehren nach Rache. Es kann jedoch jemand auch begehren nach Rache wegen dessen, was gegen andere geschehen ist. III. Aristoteles (2 Rhet. 2.) sagt: „Die Menschen erzürmn sich zumeist gegen jene, die das verachten, womit sie selber am meisten sich beschäftigen; wie z. B. die da Philosophie studieren, sich erzürnen gegen jene, welche die Philosophie verachten. . .“ Die Philosophie verachten aber heißt nicht: dem, der sie studiert, schaden. Also nicht immer ist Grund unseres Zornes das, was gegen uns geschieht. IV. „Wer da schweigt gegen denjenigen, der ihn schmäht, regt ihn dadurch um so mehr zum Zorne an,“ sagt Chrysostomus. Wer aber schweigt, thut nichts gegen den anderen. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (2 Rhet. 4.): „Der Zorn ersteht immer aus dem, was gegen die eigene Person geschieht; die Feindschaft aber ersteht auch ohne die Beziehung auf die eigene Person; wen wir nämlich für so und so halten, den hassen wir.“
b) Ich antworte; der Zorn sei das Begehren, einem anderen zu schaden auf Grund gerechter Rache. Rache aber findet keine Stelle, wo keine Verletzung vorangegangen. Und nicht alles mögliche Unrecht regt zur Rache an, sondern jenes nur, welches dem nach Rache Begehrenden zugefügt worden. Gleichwie nämlich jegliches Wesen kraft der Natur strebt nach dem eigenen, ihm entsprechenden Guten, so treibt es kraft der Naturzurück das eigene Übel. Das von jemandem zugefügte Unrecht gehört nun jenem allein an, gegen den es irgendwie sich richtet. Also der Beweggrund des Zornes ist immerdar ein der eigenen Person angethaner Schaden.
c) I. Zorn wird nicht als Leidenschaft von Gott ausgesagt, sondern als Ratschluß seiner Gerechtigkeit, insofern Er strafen will die Sünde. Denn Gott selber kann natürlich der Sünder keinen Schaden thun. Jedoch von seiner eigenen, des Sünders, Seite handelt er in doppelter Weise gegen Gott. Denn er verachtet Ihn zuvörderst in seinen Geboten; und dann schadet er entweder sich selbst oder einem anderen, was sich auf Gott bezieht, da jener, der Schaden leidet, unter Gottes Schutz und Vorsehung steht. II. Wir zürnen jenen, die anderen schaden; insoweit diese anderen zu uns gehören als Freunde, Verwandte oder wenigstens als Menschen. III. Womit wir uns am liebsten beschäftigen, erachten wir als unser eigenes Gut; und man verachtet somit uns, wenn man dies verachtet. IV. Wer schweigt, reizt zum Zorne, wenn er aus Verachtung zu schweigen scheint, als ob ihm der Zorn des anderen gleichgültig wäre; und diese Verachtung ist immerhin ein Akt.
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