Vierter Artikel. Der Mangel in jemandem ist Ursache, daß wir gegen ihn mit größerer Leichtigkeit uns erzürnen.
a) Dementgegen schreibt: I. Aristoteles (2 Rhet. 3.): „Denen, die sich demütigen, bekennen, bereuen, zürnen wir nicht; sondern haben Mitleid; weshalb auch die Hunde jene nicht beißen, die sitzen.“ Das Alles aber gehört zum Mangel in jemandem. Also ein solcher Mangel bewirkt den Zorn. II. Kein größerer Mangel wie der Tod. Da aber hört der Zorn auf. Den Toten gegenüber zürnt man nicht. III. Keiner meint, es sei jemand deshalb gering oder schwach, weil er sein Freund sei. Gegen die Freunde aber, welche uns nicht helfen oder uns beleidigen, zürnen wir am meisten nach Ps. 74.: „Wenn mein Feind mich geschmäht hätte, würde ich es jedenfalls ertragen haben.“ Auf der anderen Seite schreibt Aristoteles (l. c.): „Der Reiche erzürnt sich gegen den Armen, wenn dieser ihn verachtet; und der Obere gegen den Untergebenen.“
b) Ich antworte, eine Verachtung, welche nach allen Seiten hin unwürdig ist, rufe am meisten den Zorn hervor. Der Mangel also oder die Bedürftigkeit dessen, der uns verletzt, trägt bei zur Erhöhung des Zornes, insofern er das Unwürdige der Verletzung oder der Verachtung erhöht. Denn wie jemand, je größer er ist, mit desto mehr Unrecht verachtet wird, so ist es um so unwürdiger, wenn jener, der verachtet, so gering ist. Deshalb erzürnen sich die adeligen Herren, wenn sie von niedrigen Bauern; die Gelehrten, wenn sie von Unwissenden; die Herren, wenn sie von Knechten verachtet werden. Vermindert jedoch die Niedrigkeit und Bedürftigkeit auf seiten dessen, der verachtet, das Unwürdige in der Verachtung, so vermehrt dies nicht, sondern vermindert den Zorn. Jene also, die bereuen und sich demütigen; die da bekennen, sie hätten unrecht gethan und um Verzeihung bitten, besänftigen den Zorn nach Prov. 15.: „Eine sanfte Antwort bricht den Zorn;“ denn solche Menschen scheinen anstatt gering zu schätzen, hoch zu halten jene, vor denen sie sich demütigen.
c) I. Ist damit beantwortet. II. Die Toten können nicht mehr irgend welchen Schmerz wahrnehmen, was die Zornigen bei denen, welchen sie zürnen, am meisten suchen. Ferner scheinen die Toten das letzte aller Übel bereits zu tragen, so daß auch gegenüber jenen, die schwer verletzt worden, der Zorn aufhört, als ob ihr Übel überragte das Maß gerechter Vergeltung. III. Auch die Verachtung von seiten der Freunde scheint im höchsten Grade unwürdig zu sein; und deshalb, also aus ähnlichem Grunde, zürnen wir ihnen in höherem Grade, wenn sie verachten oder nicht helfen, wie den Geringeren und Bedürftigeren.