Erster Artikel. Es besteht ein Stärkerwerden der Zustände.
a) Dies scheint nicht der Fall zu sein. Denn: I. Ein Stärkerwerden bezieht sich immer auf einen gewissen Umfang. Die Zustände aber gehören nicht in das Bereich der Seinsart „Umfang“; sondern in die der „Eigenschaft“. II. Der Zustand ist eine gewisse Vollendung, wie 7 Phys. gesagt wird. Der Vollendung aber ist es eigen zu „enden“, zu schließen; nicht aber im „mehr“ oder „minder“, im „stärker“ oder „schwächer“ zu bestehen. III. Was ein „mehr“ oder „minder“ zuläßt, darin findet sich auch ein Anderswerden, also ein Übergang von einer Eigenschaft zur anderen oder vom Grade einer Eigenschaft zum anderen, während das zugrundeliegende Wesen das nämliche bleibt. Bei den Zuständen aber ist kein solches Anderswerden, wie 7 Phys. bewiesen wird. Also läßt ein Zustand kein „mehr“ oder „minder“ zu. Auf der anderen Seite ist der Glaube ein Zustand, läßt aber ein „mehr“ zu; wie es Luk. 17. heißt: „Herr, vermehre in uns den Glauben.“
b) Ich antworte; Ausdrücke, wie „Mehrwerden“, „Stärkerwerden“ und ähnliche, die eigentlich dem Umfange angehören, werden vom Umfange des Körperlichen aus übertragen auf die geistigen und vernünftigen Dinge auf Grund der Verwandtschaft des natürlichen Zustandes der Vernunft in uns und der körperlichen Dinge, die ja unter die Einbildungskraft fallen. Nun wird beim Körperlichen etwas als groß oder stark bezeichnet, insoweit es zur gebührenden Vollendung in seinem Umfange gelangt; so daß ein gewisser Umfang beim Menschen als groß oder stark bezeichnet wird, der nicht als solcher gilt beim Elephanten. Demgemäß also wird auch in den Formen und Eigenschaften, welche das zugrundeliegende Wesen vollenden, „groß“ genannt, was „vollkommen“ ist. Und weil das Gute den inneren Wesenscharakter des Vollendeten hat, so ist, wie Augustin (6. de Trin. 8.) sich ausdrückt, „in den Dingen, welche nicht dem Umfange nach groß sind, es ganz das Nämliche, größer zu sein und besser zu sein.“ Nun kann die Vollendung einer bestimmenden Form oder Eigenschaft unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden. Einmal unter dem der Form oder Eigenschaft selbst; und dann gemäß dem daß das betreffende Subjekt Anteil hat an der Form und sie trägt. Wird nun die Vollendung der Form an sich in Betracht gezogen, so wird von einem „klein“ und „groß“ gesprochen mit Rücksicht auf die Form selbst; wie z. B. von einer kleinen oder großen Wissenschaft oder Gesundheit. Wird jedoch berücksichtigt, in welcher Weise das fragliche Subjekt an dieser Form Anteil hat, so spricht man von einem „mehr“ und „minder“ mit Rücksicht auf die Teilnahme an der Form; wie von etwas mehr oder minder Weißem. Dabei ist jedoch zu bemerken, daß dieser Unterschied nicht etwa davon ausgeht, als ob die entsprechende Form ein eigenes Sein hätte außerhalb des Stoffes oder des Subjekts; sondern vielmehr davon, daß es etwas Anderes ist, die Natur und das innere Wesen der Form zu betrachten; und etwas Anderes, sie zu erwägen, inwieweit daran Anteil hat das Subjekt, woran sie ist. Rücksichtlich nun des „mehr“ und „minder“ in den Formen und Zuständen oder ihres Angespanntseins und Abgespanntseins, finden sich vier Ansichten bei den Philosophen, wie Simplicius berichtet (comm. praedic. de qual.) Die erste Ansicht ist die des Plotinus und der Platoniker. Sie besagt, daß die Eigenschaften und Zustände selber in ihrem Wesen ein „mehr“ oder „minder“ zulassen und zwar aus dem Grunde, weil sie ihrer Natur nach im Stoffe sind und infolge dessen wegen der Endlosigkeit des Stoffes, der immer mehr werden oder sein kann, eine gewisse Unbestimmtheit in sich einschließen. Die zweite berührt Aristoteles (in praedicam. I. c.). Nach ihr lassen die Formen in ihrem inneren Wesen kein „mehr“ und „minder“ zu; sondern was die Eigenschaften trägt, das Subjekt nämlich, thut dies. Danach wird nicht von einer mehr oder minder großen Gerechtigkeit gesprochen, sondern von einem mehr oder minder Gerechten. Die dritte Ansicht, die der Stoiker, steht in der Mitte. Denn sie wollen, daß einzelne Zustände an sich betrachtet als Eigenschaften ein „mehr“ oder „minder“ zulassen, wie die Künste; andere aber nicht, wie die Tugenden. Die vierte endlich gesteht bei den im Stoffe befindlichen Formen ein „mehr“ und „minder“ zu; nicht aber bei stofflosen, geistigen. Damit nun die Wahrheit in diesem Punkte scharf hervortrete, muß berücksichtigt werden, daß jenes Moment, wonach ein Ding auf einer Gattungsstufe steht, fest und unverrückbar sein muß, fern von allem Geteiltwerden. Denn welche Wesen auch immer an dieses Moment hinanreichen, sind enthalten in der entsprechenden Gattung; die aber nicht, wenn auch der Mangel nur sehr gering ist, hinanreichen oder in etwa darüber hinausgehen, sind nicht in der entsprechenden Gattung enthalten, sondern gehören zu einer anderen, zu einer tiefer stehenden oder zu einer höheren. Deshalb sagt Aristoteles (8 Metaph.): „Die Wesensformen der Dinge, wonach ihre Gattung bestimmt wird, sind wie die Zahlen; in welche nämlich jegliche hinzugefügt oder hinweggenommene Einheit die Gattung verändert, aus einer Dreiheit z. B. eine Vierheit oder eine Zweiheit macht.“ Wenn also irgend welche Form oder irgend welches Ding, an sich selbst oder in etwas ihm als Teil Anhaftendem betrachtet, die Natur einer bestimmten Gattung erreicht, so ist es notwendig, daß es gemäß der eigenen Form, nur in sich selbst betrachtet, die bestimmte Gattung entweder hat oder nicht hat; — es ist da weder ein „mehr“ angebracht noch ein „minder“. Und dergleichen Eigenschaften oder Formen sind die Wärme und das Weiße oder überhaupt alle jene, welche nicht ausgesagt werden kraft ihrer Beziehung zu etwas Anderem; und in besonderem Grade gehört dazu die Substanz, welche an und für sich ein Sein ist und macht, daß etwas für sich besteht. Wenn aber andere solcher Eigenschaften ihre eigene Natur nicht an sich selbst betrachtet haben, sondern kraft ihrer Beziehung auf etwas Anderes; so können sie, auch an sich selbst allein betrachtet, eine Verschiedenheit, zulassen gemäß dem „mehr“ und „minder“; — und doch bleiben sie immer ein und derselben Natur oder Wesenheit angehörig, weil jenes einheitlich dasselbe bleibt, worauf hin sie Beziehung haben und von woher sie ihre Natur oder Wesenheit erhalten; wie z. B. die Bewegung an sich betrachtet schneller oder langsamer sein kann, trotzdem aber die eine nämliche bleibt, weil der Zielpunkt, der sie charakterisiert und ihr das bestimmte Wesen verleiht, immer der nämliche ist. Und das Gleiche kann mit Rücksicht auf die Gesundheit gesagt werden. Denn der Körper reicht hinan zu der Natur und dem Wesen der Gesundheit, je nachdem er die der Natur des sinnbegabten Wesens gemäße Verfassung und Abmessung in seinen Teilen und Organen besitzt. Da also je nach der Verschiedenheit in der Natur eines solchen Wesens derartige Verfassungen und gegenseitige Abmessung in der Zusammensetzung der Teile verschieden sein können, so kann da ein „mehr“ oder „minder“ sich finden; und trotzdem bleibt immer die nämliche Natur oder Wesenheit der Gesundheit. Dementsprechend sagt Aristoteles (10 Ethic. 2.): „Die Gesundheit selbst läßt ein „mehr“ oder „minder“ zu.“ Denn nicht mechanisch ein und dieselbe ist immer die zukömmliche gegenseitige Abmessung in der Zusammensetzung der Teile bei allen solchen Wesen; und auch nicht im nämlichen Wesen ist immer die gleiche Abmessung die ihm mechanisch gebührende; — und so bleibt auch eine Gesundheit, die etwas nachläßt, immer dem Wesen nach Gesundheit bis zu einem gewissen Punkte, bis sie nämlich im offenbaren Widersprüche steht zu jener Verfassung, die dem Körper gebührt. Da also eine solche Verfassung des Körpers selbst nach den verschiedenen Verhältnissen eine gewisse Weite hat und größer oder geringer in ihrem Grade sein kann, so läßt auch die Gesundheit ein „mehr“ oder „minder“ zu; was freilich nicht statthätte, wenn der Ausdruck „Gesundheit“ nur der im höchsten Grade vollkommenen Abmessung in den körperlichen Teilen und Organen gälte. In dieser Weise erhellt sonach, wie eine Eigenschaft oder Form an sich selbst betrachtet einerseits vermehrt oder vermindert, stärker oder schwächer werden kann; und auch wie dies andererseits nicht der Fall ist. Berücksichtigen wir aber die Eigenschaft oder Form gemäß dem, daß sie von einem Subjekte getragen wird und somit dieses letztere Anteil an ihr hat, so wird auch nach dieser Seite hin gefunden, wie einzelne solcher Formen und Eigenschaften ein „mehr“ oder „minder“ zulassen, andere aber nicht. Die Ursache dieser Verschiedenheit giebt Simplicius (I. c.) an. Die Substanz nämlich kann, für sich betrachtet, kein „mehr“ oder „minder“ zulassen; denn sie ist ein für sich bestehendes Sein. Und demgemäß entbehrt jede Form, welche die Substanz eines Dinges herstellt und an der somit das betreffende Ding oder Subjekt seiner Substanz nach Anteil hat, der Steigerung oder Minderung; — wie der Mensch z. B. seiner Substanz immer einzig und unteilbar Mensch bleibt und im Alter von vierzig Jahren nicht mehr Mensch ist wie im Alter von einem Tage. Und weil der Umfang oder die Quantität der Substanz nahe steht, und ebenso die äußere Form und Figur wieder dem Umfange entsprechen; daher kommt es, daß auch darin ein „mehr“ oder „minder“ nicht zulässig ist. Deshalb sagt Aristoteles (7 Phys.): „Wenn etwas seine Form und Figur erhält, dann erfährt es damit kein Anderswerden, sondern es wird eben einfach. Die anderen Eigenschaften aber, welche von der Substanz weiter entfernt sind und mehr mit den Leidenschaften und Thätigkeiten verbunden, lassen ein „mehr“ und „minder“ zu gemäß der Teilnahme des Subjekts daran.“ Es kann jedoch die Begründung dieser Verschiedenheit der Eigenschaften und Zustände in ihrem Verhalten zum „mehr“ und „minder“ oder zur Erstarkung und Abspannung noch eingehender erläutert werden. Denn wie eben gesagt muß jenes Moment, wovon etwas seine Gattungsnatur oder die Stufe seines Wesens hat, fest und unverrückbar dastehen; es muß allem Teilbarsein fern liegen. Auf eine doppelte Weise kann es sich also treffen, daß ein Subjekt nicht Anteil hat an einer Form gemäß dem „mehr“ und „minder“: einmal weil das Subjekt, welches Anteil daran hat, gemäß dieser Form seine Substanz und Gattungsstufe hat. Denn keine substantiale Wesensform wird so mitgeteilt, daß der Anteil daran ein größerer oder minderer sein könnte. „Wie die Zahl“ heißt es 8 Metaph., „kein mehr und minder hat, so hat dies auch nicht die Substanz, soweit es auf die bestimmende Wesensform in ihr ankommt; nur wenn eine solche Form im Stoffe sich findet, so kann gemäß dem daß der Stoff mehr oder minder geeignet ist, sie mit höherer oder geringerer Vollkommenheit zu tragen, da ein „mehr“ und „minder“ sich in der Substanz (freilich nicht in der Substanz an sich, aber in dem vollkommeneren Sein der Substanz) vorfinden.“ Dann wird bei der Teilnahme des Subjekts an einer Form ein „mehr“ und „minder“ ausgeschlossen, wenn die Form selbst irgend welche Teilbarkeit von sich ausschließt. Daher werden die Gattungen der Zahl nicht gemäß dem „mehr“ und „minder“ ausgesagt; denn eine jede solcher Gattungen wird gebildet durch eine (hinzugefügte oder abgezogene) Einheit. Das Nämliche gilt von den verschiedenen Gattungen im Umfange, welche nach den Zahlen sich richten, wie das zwei Ellen Lange; — ebenso von den entsprechenden Beziehungen, wie das Doppelte, Dreifache; — und von den Figuren, wie Dreieck, Rechteck u. s. w. Die gänzliche Unteilbarkeit nämlich (Praedicam. de qual.), wonach sie, auch nicht von seiten des Subjekts, vollkommener oder unvollkommener mitgeteilt werden können, gehört zu ihrem Wesen. Werden also Zustände und „Verfassungen“ ausgesagt kraft der Beziehung zu etwas Anderem, so kann in doppelter Weise eine Steigerung oder Minderung in ihnen beobachtet werden: 1. an sich betrachtet, wie man von größerer und geringerer Gesundheit, von größerer und geringerer Wissenschaft spricht, je nachdem sie auf weniger oder mehr sich erstreckt; — 2. gemäß der Teilnahme des Subjekts an diesen Zuständen, wie z. B. Gesundheit und Wissenschaft tiefer von dem einen aufgefaßt wird wie vom anderen je nach der vorliegenden verschiedenen Beschaffenheit des Subjekts, das durch Talent oder durch Gewohnheit mehr zum Aufnehmen des Besagten geeignet erscheint. Denn ein Zustand oder eine Verfassung verleiht dem betreffenden Subjekt als dem Träger keine eigene Substanz oder Wesenheit; und schließt auch nicht in seinem Wesenscharakter die gänzliche Unteilbarkeit ein. Was hier im allgemeinen gesagt worden, wird dann Kap. 66 im besonderen auf die Tugend angewendet werden.
c) I. Wie der Ausdruck „Größe“ vom körperlichen Umfange hergenommen wird, um auf die geistige Vollendung der Formen angewandt zu werden, so geschieht es mit dem Ausdruck „Erstarken“ oder „Mehrwerden“, wofür ja etwas Großes immer den Abschluß bildet. II. Der Zustand ist allerdings eine Vollendung, aber nicht eine solche, welche den Abschlußpunkt seines Subjekts oder Trägers bildet; als ob er nämlich ein substantielles Sein verliehe, wonach etwas schließlich dies ist und bleibt und nichts Anderes. Der Zustand enthält auch nicht in seinem Wesen den Abschlußpunkt, wie dies die Gattungen der Zahlen, Dreiheit, Vierheit u. s. w. thun. Also kann er wohl einem „mehr“ und „minder“ zugänglich sein. III. Das Anderswerden oder der Übergang von einer Eigenschaft zur anderen oder von einem Grade der nämlichen Eigenschaft zu einem anderen findet sich eingeschlossen in der dritten Gattung von Eigenschaften, beim Leiden und Thätigsein oder Geben und Empfangen. In den Eigenschaften der ersten Gattung, also in den Zuständen, kann ein solches Anderswerden folgen. Denn handelt es sich um ein Anderswerden gemäß dem Kalten und Warmen, so folgt, daß das sinnbegabte Wesen anders wird gemäß dem Gesunden und Kranken. Ähnlich nun, wenn ein Anderswerden stattgefunden hat gemäß den Leidenschaften des sinnlichen Teiles oder gemäß den auffassenden sinnlichen Kräften, so folgt eine Änderung in der Tugend oder in der Wissenschaft.
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