Erster Artikel. Ein bereits bestehender Zustand kann wieder vergehen.
a) Dementgegen wird geltend gemacht: I. Der Zustand ist wie eine zweite Natur; weshalb die von ihm ausgehenden Thätigkeiten angenehm und ergötzlich sind. Die Natur aber vergeht nicht, während das Ding existiert, in dem sie Natur ist. Also vergeht auch nicht ein Zustand oder eine Gewohnheit. II. Jedes Vergehen einer Form rührt entweder vom Vergehen des Subjekts, ihres Trägers, her oder von der gegenteiligen Form; wie z. B. die Krankheit in einem sinnbegabten Wesen vergeht, sobald letzteres selber vergeht oder die Gesundheit kommt. Der Träger oder das Subjekt der Wissenschaft aber, also eines Zustandes, ist die Vernunft, d. h. ein Wesen, welches dem Vergehen nicht unterworfen ist; und zudem kann sie nicht von der gegenteiligen Form her vertrieben werden, denn die Erkenntnisformen oder Ideen sind einander nicht entgegengesetzt. (7 Metaph.) Also der Zustand der Wissenschaft kann nimmermehr vergehen. III. Jedes Vergehen ist die Folge irgend einer Bewegung. Der Zustand der Wissenschaft aber kann nicht die Folge einer Bewegung sein, die der Seele an sich angehört. Denn die Seele an sich ist nicht in Bewegung; sie ist es nur, soweit die Bewegung des Körpers mit ihr zusammenhängt. Nun kann aber keine körperliche Veränderung zur Folge haben das Vergehen der Erkenntnisformen innerhalb der Vernunft. Denn die Vernunft ist an sich unabhängig vom Körper, der Platz für die Erkenntnisformen, so daß selbst der Tod auf sie keinen Einfluß hat und ebenso nicht eine Veränderung im sinnlichen Teile. Die Wissenschaft also kann nicht vergehen, sobald sie einmal da ist; und folgerichtig auch nicht die Tugend, die ja in der vernünftigen Seele ihren Sitz hat. Deshalb sagt Aristoteles (1 Ethic. 10.): „Die Tugend dauert länger wie die verschiedenen Wissenszweige.“ Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (de longit. et brevit. vitae 2.): „Das Vergehen der Wissenschaft ist die Folge von Vergessen und Täuschungen.“ Durch die Sünde verliert ebenso jemand den Zustand der Tugend; denn „aus Thätigkeiten, die der Tugend entgegen sind, ist das Vergehen der Tugend die Folge.“
b) Ich antworte; eine Form oder Eigenschaft vergehe an sich infolge des Herankommens der ihr entgegengesetzten Form oder Eigenschaft; sie vergeht infolge von etwas Äußerlichem, wenn ihr Träger oder Subjekt vergeht. Hat also ein Zustand ein vergängliches Subjekt, das ihn trägt; und hat er zudem eine Ursache, der eine andere entgegengesetzt ist, so kann er auf doppelte Weise vergehen; wie dies bei allen körperlichen Zuständen, bei Gesundheit und Krankheit z. B., der Fall ist. Jene Zustände aber, deren Träger oder Subjekt unvergänglich ist, können allein infolge von etwas Äußerlichem (per accidens) vergehen. Es giebt jedoch deren, wo das hauptsächliche Subjekt wohl unvergänglich ist; was aber an zweiter Stelle als Subjekt erscheint, das ist vergänglich. Dazu gehört der Zustand der Wissenschaft, der da seinen hauptsächlichen Sitz hat in der rein geistigen „möglichen“ Vernunft; an zweiter Stelle aber auch die sinnlich auffassenden Kräfte als Subjekt besitzt. (Vgl. Kap. 50, Art. 3 ad III.) Also von seiten der „möglichen“ Vernunft, der es zugehört, thatsächlich, kraft der in ihr befindlichen Ideen geistig zu erkennen, kann der Anlaß zum Vergehen des Zustandes der Wissenschaft nicht ausgehen; denn diese Vernunft ist unvergänglich. Es kann hier als äußerlicher Anlaß zum Vergehen des Zustandes der Wissenschaft nur das in Frage kommen, was sein Sitz oder Subjekt an zweiter Stelle ist, nämlich die sinnlich auffassenden Kräfte. Demnach muß man nachsehen, ob dergleichen Zustände an und für sich, nicht per accidens von seiten ihres Trägers oder Subjektes, vergehen können. Existiert nämlich ein Zustand, der zu etwas im Gegensatze steht, sei es von sich aus sei es von seiner Ursache aus, so kann er an und für sich, nämlich in seinem Wesen betrachtet, vergehen. Nun steht offenbar die geistige Erkenntnisform in der „möglichen“ Vernunft zu nichts in einem solchen Gegensatze, der in etwa das Erkennen hinderte; ich erkenne z. B. im Gegenteil um so besser das Weiße durch den Gegensatz des Schwarzen. Und ebensowenig steht etwas im Gegensatze zur „einwirkenden“ Vernunft, welche die Ursache davon ist, daß Erkenntnisformen in der „möglichen“ Vernunft sich finden. Besteht also in der Vernunft ein Zustand, der unmittelbar verursacht ist von der „einwirkenden“ Vernunft, so ist ein solcher Zustand unvergänglich an und für sich sowohl, als auch von seiten seines Subjektes oder seines Trägers. Dergleichen Zustände sind die Zustände des Verständnisses der ersten Grundprincipien sowohl was das rein spekulative als was das auf die Thätigkeit gerichtete. Wissen anlangt; wie Aristoteles (6 Ethic. 5.) sagt von der Klugheit, die sich ja auf das thätige Leben richtet, „sie werde nicht gestört durch das Vergessen.“ Ein anderer Zustand aber ist in der „möglichen“ Vernunft durch den Verstand, soweit dieser von dem Einen auf das Andere schließt, verursacht. Das ist der Zustand, welcher die gezogenen Schlußfolgerungen umfaßt und der da speciell Wissenschaft genannt wird. Und hier besteht eine doppelte Ursache für sein Vergehen: 1. von seiten der Sätze selber, durch welche man zur Schlußfolgerung gelangt ist, von denen der eine entgegengesetzt sein kann dem anderen; wie z. B. dem Satze: Das Gute ist gut, entgegensteht der Satz: Das Gute ist nicht gut; — 2. von seiten der Beschaffenheit des Vorgehens der Vernunft; wie nämlich der Beweisgrund, der nur zu einer Wahrscheinlichkeit führt, entgegen ist dem Beweisgrunde, der mit Notwendigkeit zum Schlüsse leitet. So kann also durch falsches Schließen vom Einen auf das Andere veranlaßt werden das Vergehen des Zustandes, welcher die wahre Meinung oder wahres Wissen umfaßte. Deshalb sagt Aristoteles: „Die Täuschung hat zur Folge das Vergehen der Wissenschaft.“ Was nun die Tugenden betrifft, welche in der Vernunft selbst ihren Sitz haben, so gilt davon dasselbe wie vom Wissen und vom Meinen. Andere Tugenden sind im begehrenden Teile, nämlich die moralischen; und ebenso verhält es sich mit den entgegengesetzten Lastern. Dergleichen Zustände werden nun verursacht dadurch daß die Vernunft von Natur geeignet ist, den begehrenden Teil zu bewegen oder in Thätigkeit zu setzen. Wenn also, sei es wie auch immer, nämlich aus Unkenntnis oder aus Leidenschaft oder aus freier Wahl, die Vernunft zum Gegenteil hin in Bewegung setzt, so vergeht der entsprechende Zustand der Tugend und des Lasters.
c) I. Zustände haben (nach 7 Ethic. 10.) „Wohl Ähnlichkeit mit der Natur; jedoch sind sie geringer.“ Die Natur also kann niemals aus einem Dinge schwinden, ohne daß dieses selbst vergeht; Zustände aber sind nur schwer veränderlich. II. Den reinen Ertenntnisformen gegenüber ist wohl nichts im Gegensatze; wohl aber kann zu den Sätzen und dem Vorgehen der Vernunft beim Schließen etwas im Gegensatze stehen; siehe oben. III. Infolge körperlicher Bewegung kann die Wissenschaft, soweit die Wurzel ihres Bestandes in Betracht kommt, nicht vergehen; wohl aber kann ihr Thätigsein dadurch gehemmt werden, daß sie, um thätig zu sein d. h. thatsächlich zu verstehen und zu urteilen, der sinnlichen auffassenden Kräfte bedarf, denen aus körperlicher Veränderung ein Hindernis erstehen kann. Aber infolge des Vorgehens der Vernunft bei der (geistigen) Bewegung oder Thätigkeit des Schließens vom Einen auf das Andere kann der Zustand der Wissenschaft auch in der Wurzel angegriffen werden und vergehen; und ebenso die Tugend. Was jedoch gesagt wird, die Tugenden seien dauerhafter wie die verschiedenen Wissenszweige, so gilt dies nicht von seiten des Subjektes oder der verursachenden Kraft; sondern es hat seine Wahrheit mit Rücksicht auf die Thätigkeit. Denn die Tugenden gebraucht man für das ganze Leben; nicht aber die verschiedenen Wissenszweige.
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