Dritter Artikel. Das Abstehen vom Thatigsein für sich allein bereits hat zur Folge das Vergehen oder Minderwerden des betreffenden Zustandes.
a) Dementgegen ist festzuhalten: I. Die Zustände sind doch dauerhafter wie einfache Eigenschaften, die ihrer Natur nach einwirken. Letztere aber vergehen nicht und verlieren auch nichts in ihrer Kraft, wenn das Thätigsein aufhört. Die weiße Farbe z. B. wird nicht minder, wenn sie auch auf kein Auge einwirkt; und ebenso nicht die Wärme, wenn sie auch nichts erwärmt. Also ist dies um so weniger bei den Zuständen der Fall. II. Vergehen und Minderwerden sind Veränderungen. Nichts aber verändert sich, ohne daß ein wirkender thätiger Einfluß vorhanden ist. Da also das Abstehen vom Thätigsein kein wirkender Einfluß ist, so folgt daraus weder ein Vergehen noch ein Minderwerden. III. Wissenschaft und Tugend sind als im vernünftigen Teile befindlich über die Zeit erhaben; und werden deshalb durch keine Länge der Zeit beeinflußt, daß sie etwa damit von vornherein vergehen oder minder werden. Enthält sich also jemand lange Zeit des entsprechenden Thätigseins, so hat das keinen Einfluß auf diese Zustände. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles l. c., auch das reine Vergessen habe das Vergehen des entsprechenden Zustandes der Wissenschaft zur Folge. Und 8 Ethic. 5.: „Viele Freundschaft löst der Mangel an Erneuerung auf.“ Dasselbe gilt aus dem gleichen Grunde für die übrigen Tugenden.
b) Ich antworte; es könne etwas in doppelter Weise ein Anderes in Thätigkeit oder Bewegung setzen: einmal kraft seiner inneren Natur und der eigenen Form, wie das Feuer warm macht; und dann nebenbei wie jenes, was ein Hindernis entfernt. Und in dieser letzteren Weise hat das Abstehen vom Thätigsein die Minderung und das Vergehen des Zustandes zur Folge, insoweit nämlich durch die Thätigkeit die verderbenden und störenden Einflüsse ferngehalten werden. Denn oben ist gesagt worden, die Zustände würden an und für sich allein betrachtet minder oder sie vergingen infolge der entgegengesetzten wirkenden Ursache. Wenn also im Verlaufe der Zeit die Gegensätze von Zuständen wachsen, welche die von den Zuständen ausgehende Thätigkeit entfernen oder bekämpfen müßte, so werden durch lange Unthätigkeit die Zustände selbst offenbar minder und vergehen am Ende, wie dies bei der Wissenschaft und Tugend leicht zu fehen ist. Offenbar nämlich macht der Zustand einer moralischen Tugend den Menschen bereitwilliger, um bei den entsprechenden Thätigkeiten und Leidenschaften den richtigen Mittelweg zu finden. Und wenn dann jemand der Tugend sich nicht bedient, um die Leidenschaften und die eigenen Thätigkeiten zu regeln und ihnen das nötige Maß aufzulegen; so müssen viele Leidenschaften und Thätigkeiten vorkommen. welche außerhalb des der Tugend entsprechenden Maßes stehen und die vielmehr von der Hinneigung des sinnlichen Begehrens und von anderen Dingen, die von außen her Einfluß gewinnen, herkommen. Also vergeht die Tugend infolge langer Unthätigkeit. Ahnlich geht es mit den Zuständen auf seiten der Vernunft, gemäß denen der Mensch bereitwillig und geeignet ist, recht zu urteilen über das, was in der Einbildungskraft sich findet. Gebraucht also der Mensch einen solchen Zustand nicht mehr, so erstehen infolge dieser Unthätigkeit fremde Bilder in der Phantasie, die bisweilen zum Gegenteile des betreffenden Zustandes führen und mit Rücksicht auf das Beste des Menschen etwas Fremdes, Äußerliches sind. Werden dieselben nun nicht zeitig durch die vernünftige Thätigkeit entfernt oder beschnitten, so verliert sich die Bereitwilligkeit des Menschen, richtig das Alles zu beurteilen; und nach und nach wird er geeignet für das Gegenteil. So hat die bloße Unthätigkeit ein Minderwerden des Zustandes oder auch das gänzliche Vergehen desselben zur Folge.
c) I. Auch die Wärme würde vergehen, wenn sie aufhörte, warm zu machen; denn dadurch nähme die Kälte zu, das Gegenteil der Wärme. II. Das Abstehen vom Thätigsein ist eine bewegende Ursache zum Vergehen des Zustandes hin wie etwas, das ein Hindernis entfernt; nämlich es entfernt die dem Zustande entsprechende Thätigkeit, welche ein Hindernis ist für den entgegengesetzten wirkenden Einfluß. III. Der vernünftige Teil der Seele an sich ist erhaben über die Zeit; jedoch unterliegt der sinnliche Teil dem Einflüsse der Zeit. Und so wird dieser Teil mit dem Verlaufe der Zeit verändert mit Rücksicht auf die Leidenschaften im sinnlichen Teile und mit Rücksicht auf die sinnlichen auffassenden Kräfte. Deshalb sagt Aristoteles (4 ?KMo.): „Die Zeit ist die Ursache des Vergessens.“
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