Erster Artikel. Mehrere Zustande können in ein und demselben vermögen sein.
a) Dem steht entgegen: I. Wenn Dinge gemäß ein und demselben Grunde voneinander unterschieden werden, so muß das eine in der nämlichen Art und Weise vervielfältigt werden wie das andere. Gemäß ein und demselben Grunde aber werden die Vermögen voneinander unterschieden und die Zustände voneinander; nämlich nach den Thätigkeiten und den Gegenständen. Also werden sie auch in ganz der nämlichen Weise vervielfältigt. Nicht also sind viele Zustände in ein und demselben Vermögen. II. Vermögen ist eine gewisse einfache Kraft oder Fähigkeit. In einem Subjekte aber, das einfach ist, kann keine Verschiedenheit sich vorfinden in den hinzutretenden Eigenschaften. Denn das Subjekt ist die Ursache dieser Eigenschaften, insoweit ja dieselben von ihm das Sein haben; und von einem einzigen Einfachen scheint nur ein Eines hervorgehen zu können. So sind in einem einzigen Vermögen nicht viele Zustände. III. Wie der Körper seine Form erhält durch die Figur, so erhält das Vermögen seine Form durch den Zustand. Ein einzelner Körper aber wird nicht geformt durch verschiedene Figuren. Also hat auch nicht ein einzelnes Vermögen viele Zustände. Auf der anderen Seite ist die Vernunft ein einiges Vermögen; und doch sind in ihr die Zustände verschiedener Wissenschaften.
b) Ich antworte, daß Zustände gewisse Verfassungen sind eines Seins, welches im Vermögen besteht zu etwas hin, sei es zur Natur sei es zu der Thätigkeit oder dem Zwecke hin. Und zwar ist es bei den erstgenannten Zuständen offenbar, daß mehrere sein können in ein und demselben Subjekte; denn die Teile ein und desselben Subjekts können in verschiedener Weise im Verhältnisse zu einander stehen und gerade deren Verfassung oder deren Verhältnis zu einander wird Zustand genannt. So besteht der Zustand der Gesundheit darin, daß die verschiedenen Teile des Körpers, genannt humores, gemäß der menschlichen Natur zu einander im gebührenden Verhältnisse stehen; der Zustand der Kraft aber besteht darin, daß die gleichartigen Teile, wie die Nerven, die Knochen, das Fleisch in Beziehung zur Natur im rechten Verhältnisse stehen; und die Schönheit besteht darin, daß die Glieder, wie Hand, Fuß und derartiges der Richtschnur der Natur entsprechen. Und so sind mit Bezug auf die Natur eines Dinges mehrere Zustände oder Verfassungen in ein und demselben Subjekte. Sprechen wir aber von den Zuständen, welche die Thätigkeit zum Zwecke haben und so recht eigentlich auf die Vermögen sich beziehen, so trifft es sich auch hier, daß in ein und demselben Vermögen mehrere Zustände sein können. Der Grund davon ist, daß allein das empfangende oder aufnehmende Vermögen, nämlich die potentia passiva; nicht aber ein Vermögen, das seiner Natur nach nur wirksam thätig ist, sonach eine potentia passiva, Subjekt von einem Zustande sein kann. Ein empfangendes oder leidendes Vermögen nun verhält sich zum bestimmten thatsächlichen Sein einer einzigen Seinsart wie der bestimmbare Stoff zur bestimmenden Form. Denn wie der Stoff bestimmt wird zu einer einzigen Form hin durch eine einzige wirkende Ursache, so wird ein Vermögen von seiten der Natur eines einzigen Gegenstandes her bestimmt zu einer einzigen Art von Thätigkeit. Da nun mehrere wirksam einfließende Gegenstände in Thätigkeit setzen können ein einziges bestimmbares Vermögen, so kann ebenso ein einziges bestimmbares Vermögen Sitz oder Subjekt sein von ihrer Gattung nach verschiedenen Thätigkeiten und Vollkommenheiten. Die Zustände aber sind gewisse Eigenschaften oder dem Vermögen anhaftende Formen, durch welche das Vermögen hingeneigt wird zu bestimmten Thätigkeiten, die in der Gattung sich voneinander unterscheiden. Also in ein und demselben Vermögen können mehrere Zustände sein, wie ein und demselben Vermögen mehrere der Gattung nach verschiedene Thätigkeiten angehören können.
c) I. Im Bereiche der reinen Natur besteht in den Dingen die Verschiedenheit in den Gattungen gemäß der Richtschnur der bestimmenden Wesensformen; die Verschiedenheit in den Arten gemäß dem bestimmbaren Stoffe (5 Metaph.); denn jene Dinge sind verschieden der Art nach, deren Stoff in verschiedener Weise bestimmbar ist. So nun bewirkt die Verschiedenheit der Gegenstände in der Seinsart den Unterschied in den Vermögen. Deshalb sagt Aristoteles (6 Ethic. 1.): „Auf die Dinge, welche in der „Art“ verschieden sind, im genus, sind auch verschiedene Seelenvermögen gerichtet.“ Die Verschiedenheit aber der Gegenstände gemäß der Gattung macht den Unterschied in den Thätigkeiten der Gattung nach; und somit bewirkt sie auch den Unterschied in den Zuständen. Denn was auch immer unterschieden ist voneinander der „Art“ nach, das ist auch verschieden der Gattung nach; aber nicht umgekehrt. Und deshalb sind, wenn die Vermögen voneinander verschieden sind, auch die entsprechenden Thätigkeiten und Zustände der Gattung nach unterschieden. Damit ist aber nicht gesagt, daß, sobald die Zustände und Thätigkeiten voneinander unterschieden sind, dann auch die Vermögen voneinander unterschieden sein müssen; sondern es können mehrere Zustände in ein und demselben Vermögen sich finden. Und wie bei den „Arten“ Unterarten sind und bei den Gattungen Untergattungen, so giebt es auch verschiedene Gattungen von Zuständen und Vermögen. III. Ein Vermögen mag einfach sein in seiner Wesenheit; es ist aber in seiner Kraft sehr oft auf mehrere Thätigkeiten, die der Gattung nach verschieden sind, gerichtet. Also können, wie der Gattung nach verschiedene Thätigkeiten, so auch der Gattung nach verschiedene Zustände zu einem einzigen Vermögen gehören. Der Körper wird durch die Figur begrenzt wie durch die ihm einzig eigene schließliche Begrenzung. Der Zustand aber ist keine solche Be grenzung des Vermögens, sondern eine gewisse Verfassung oder Vorbereitung zur.Thätigkeit hin, die der letzte Abschluß des Vermögens ist. Somit können nicht ein und demselben Vermögen zugleich mehrere Thätigkeiten zukommen, außer insoweit die eine die andere in sich begreift; wie auch nicht ein und derselbe Körper mehrere Figuren zugleich haben kann, außer insoweit die eine in der anderen enthalten ist, wie das Dreieck im Viereck. Es kann nicht zugleich vieles, voneinander Getrennte in einem einzigen thatsächlichen Erkennen gewußt werden. Wohl aber kann man zu gleicher Zeit mehrere Wissenschaften dem Zustande nach in sich haben; denn dies macht nur geeignet, zum entsprechenden thatsächlichen Erkennen.
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