Erster Artikel. Die Tugend ist ein Zustand.
a) Dem steht entgegen: I. Aristoteles, der (1. de coelo) die Tugend nennt „das Letzte, worauf das Vermögen sich erstreckt;“ ultimum potentiae. Das „Letzte“ aber eines jeden Wesens laßt sich zurückführen auf dasjenige, dessen „Letztes“ es ist; wie der Punkt zur Seinsart der Linie gehört. Also gehört die Tugend in das Bereich der Seinsart „Vermögen“ und ist kein „Zustand“. II. Augustinus, der (2. de lib. arb. 19; 2. Retr. 9.) schreibt: „Die Tugend ist der gute Gebrauch des freien Willens.“ Gebrauch aber ist Thätigkeit und nicht Zustand. III. Der Zweck der Tugend, der da ist, Verdienste zu haben. Nur aber durch Thätigsein verdienen wir, nicht durch Zustände. IV. Noch einmal Augustin, der (morib. Eccl. 15.) die Tugend nennt „die der Liebe eigene Ordnung“; und weiter (83. Qq. 30.) näher bestimmt, „diese Ordnung bestehe darin, daß man das als Mittel gebrauche, was seiner Natur nach Mittel ist; und das als Genuß betrachte, was seiner Natur nach zu genießen ist.“ Die Ordnung aber deutet auf Thätigkeit hin oder auf Beziehung. Also ist die Tugend eines von diesen beiden und nicht ein Zustand. V. Der Vergleich mit den rein natürlichen Tugenden, die ja mit der Natur gegebene Vermögen sind und nicht Zustände. Auf der anderen Seite nennt Aristoteles (Praedic. c. qual.) die Tugend und die Wissenschaft „Zustände“.
b) Ich antworte, „Tugend“ bezeichne eine gewisse Vollendung des Vermögens. Denn eines jeglichen Dinges Vollendung wird erwogen mit Beziehung auf seinen Zweck; der Zweck des Vermögens aber ist Thätigkeit. Also ist ein Vermögen vollendet, insoweit es in sich die bestimmte Beziehung trägt zu seiner Thätigkeit. Nun giebt es Vermögen, die, an sich selbst allein betrachtet, bereits vollständig für ihre Thätigkeit bestimmt sind, wie jene Vermögen, die von Natur aus thätig sind; und sonach werden solche Vermögen an sich selbst als „natürliche Tugenden“ oder natürliche Kräfte ohne weiteres bezeichnet. Die vernünftigen Vermögen aber, die dem Menschen an sich betrachtet eigentümlich sind, sind nicht von Natur zu einer einzigen Thätigkeit hin bestimmt, sondern stehen als fähig zu vielerlei Thätigkeit da. Nun werden solche Vermögen des näheren bestimmt durch die Zustände, wie aus Kap. 49, Art. 3 erhellt. Und sonach sind die menschlichen Tugenden Zustände.
c) I. Tugend oder Tauglichkeit wird oft bemessen und bezeichnet nach dem, worauf sich dieselbe richtet, nämlich auf den Gegenstand oder auf ihre Thätigkeit; wie Glaube genannt wird zuweilen das, was geglaubt wird, und zuweilen das thatsächliche Glauben selber und zuweilen der Zustand in der Seele, vermittelst dessen geglaubt wird. Wenn also gesagt wird, „Tugend sei das Letzte des betreffenden Vermögens“, so wird Tugend oder Tauglichkeit genommen für den Gegenstand derselben. Was nämlich an letzter, äußerster Stelle ein Vermögen vermag, ist das, was als die Tauglichkeit des Dinges bezeichnet wird. So z. B. wenn jemand tauglich ist, hundert Pfund zu tragen, aber nicht mehr; so wird seine Tauglichkeit beurteilt nach den hundert Pfund und nicht nach sechzig. Im Einwürfe aber wird diese Bestimmung betrachtet, als ob sie das innere Wesen der Tugend anginge. Aus demselben Grunde wird von Augustin der Gebrauch des freien Willens als Tugend bezeichnet; die eigentliche Thätigkeit also, worauf die Tugend sich richtet. III. Wir verdienen einmal durch das Thätigsein selber, wie wir kraft des Laufens bezeichnet werden als Laufende; und das ist das Verdienen selbst; — dann aber verdienen wir durch das Princip des Verdienens, wie man sagt, wir liefen auf Grund unserer Bewegungskraft; und so verdienen wir durch Tugenden und Zustände. IV. „Ordnung“ wird die Tugend genannt, wie etwas, worauf die Tugend sich richtet. Denn durch die Tugend wird in uns die Liebe geordnet. V. Die rein natürlichen Vermögen sind auf eine einzige Art Thätigkeit von sich aus bestimmt; was bei den vernünftigen nicht der Fall ist.