Fünfter Artikel. Gemäß den verschiedenen Gegenständen der Leidenschaften unterscheiden sich die moralischen Tugenden.
a) Das Gegenteil stützt sich auf folgende Gründe: I. Wie sich die Gegenstände der Leidenschaften verhalten, so auch die Gegenstände der Thätigkeiten. Letztere aber bilden keinen Unterscheidungsgrund für die moralischen Tugenden; mag man nämlich ein Haus oder ein Pferd kaufen, das gehört zur selben Gerechtigkeit. Also ist dies auch mit den Gegenständen der Leidenschaften der Fall. II. Die Leidenschaften sind gewisse Thätigkeiten des sinnlichen Begehrens. Eine größere Verschiedenheit aber wird verlangt, um einen Unterschied in den Zuständen zu begründen, wie um einen solchen in den Thätigkeiten zu verursachen. Verschiedene Gegenstände also, welche einen Gattungsunterschied in den Leidenschaften nicht herstellen, können auch einen solchen nicht für die entsprechenden Zustände der moralischen Tugenden verursachen. Für alle Ergötzlichkeiten also wird die eine und selbe moralische Tugend sein; und so für das Übrige. III. Ein „mehr“ oder „minder“ macht keinen Unterschied in der Gattung. Die verschiedenen Gegenstände des Ergötzens aber unterscheiden sich nur gemäß einem „mehr“ und „minder“. Also alles Ergötzliche gehört zu einer Gattung von Tugend und nicht zu mehreren; ebenso ähnlich alles Schreckliche etc. Die Gegenstände der Leidenschaften also machen keinen Unterschied in den Tugenden. IV. Wie die Tugend das Thätigsein auf das Gute richtet, so ist sie auch ein Hindernis des Bösen. Nun sind rücksichtlich der Begierlichkeiten nach dem Guten verschiedene Tugenden angesetzt; wie die Mäßigkeit betreffs der Begierlichkeiten nach den Ergötzungen des Tastsinnes, die Eutrapelie oder der angenehme Verkehr mit anderen rücksichtlich der Ergötzungen des Spiels. Also müssen auch betreffs der verschiedenen Arten von Furcht verschiedene Tugenden sein. Auf der anderen Seite ist die Keuschheit betreffs der geschlechtlichen Ergötzungen; die Abtötung (abstinentia) rücksichtlich der Ergötzungen an Speisen; und die Kunst, angenehm zu verkehren (eutrapelia) für die Ergötzungen am Spiel.
b) Ich antworte; die Vollendung der Tugenden hänge von der Vernunft ab, die der Leidenschaft vom sinnlichen Begehren selber. Also die Tugenden werden unterschieden gemäß der Beziehung zur Vernunft; die Leidenschaften gemäß ihrer Beziehung zum sinnlichen Begehren. Die Gegenstände der letzteren also verursachen verschiedene Gattungen Leidenschaften, je nachdem sie in verschiedenem Verhältnisse stehen zum sinnlichen Begehren; sie verursachen verschiedene Gattungen von Tugenden, je nachdem sie in verschiedenem Verhältnisse stehen zur Vernunft. Nicht nämlich dieselbe Bewegung oder Thätigkeit ist der Vernunft eigen wie dem sinnlichen Begehren. Eine Verschiedenheit also, welche einen Gattungsunterschied in den Leidenschaften begründet, ist damit noch nicht die Ursache eines Gattungunterschiedes in den Tugenden; wie wann eine einzige Tugend sich mit verschiedenen Leidenschaften befaßt, s. oben; — und umgekehrt was einen Unterschied in den Tugenden macht, thut dies nicht immer damit zugleich in den Leidenschaften, wie wenn verschiedene Tugenden sich richten auf eine einzige Leidenschaft, das Ergötzen z. B. Weil nun verschiedene Leidenschaften, welche verschiedenen Vermögen angehören, immer einen Unterschied in den Tugenden machen, wie oben (Art. 4.) gesagt worden, so begründet die Verschiedenheit der Gegenstände, welche auf verschiedene Vermögen sich beziehen, immer einen Unterschied in den Gattungen der Tugenden; wie z. B. daß etwas ein Gut sei schlechthin und etwas Anderes ein schwer zu erreichendes Gut. Und weil zudem in gewisser Reihenfolge, nach gewissem Verhältnisse, die Vernunft die niederen Teile des Menschen leitet und auch auf das Äußerliche sich erstreckt; — deshalb hat auch ein Gegenstand verschiedene Beziehung zur Vernunft, je nachdem er mit dem Sinne oder mit der Einbildungskraft oder mit der (niederen) Denkkraft erfaßt wird; und danach ist dieser Gegenstand geeignet, in den Tugenden eine Verschiedenheit zu verursachen. Das Gute, was dem Menschen entspricht, der Gegenstand nämlich der Liebe, des Begehrens, des Ergötzens kann also genommen werden, insofern es von der Auffassung der äußeren Sinne erreicht wird oder von den inneren Sinnen der Seele; und zwar mag dieses Gute Beziehung haben zum Wohle des betreffenden auffassenden Menschen selbst sei es rücksichtlich des Körpers sei es rücksichtlich der Seele, oder mag es Beziehung haben auf das Wohl des Menschen soweit dieser mit anderen in Verbindung steht. Und alle solche Verschiedenheit verursacht einen Unterschied in den Tugenden auf Grund des verschiedenen Verhältnisses zur Vernunft. Ist also ein Gut mit dem Tastsinne erfaßt und gehört es zum Bestande des einzelnen Menschen oder zum Bestände der Gattung (wie die Ergötzlichkeiten an Speise und Trank und die geschlechtlichen), so gehört dies zur Tugend der Mäßigkeit. Die Ergötzlichkeiten der anderen Sinne aber bringen keine Schwierigkeit mit sich mit Bezug auf die Regelung seitens der Vernunft, da sie nicht so heftig sind; und deshalb wird mit Rücksicht auf sie keine Tugend angesetzt, die ja immer auf das Schwere sich richtet, wie auch die Kunst. (2 Ethic. 3.) Das Gute, was nicht der Sinn, aber die innere Kraft auffaßt und was auf den Menschen selber in sich Bezug hat, ist z. B. wie Geld und Ehre; von denen das Geld an und für sich beziehbar ist auf das Gute des Körpers, die Ehre aber in der Erfassung der Seele besteht. Und diese Güter nun können betrachtet werden entweder schlechthin, soweit sie zur Begehrkraft gehören; oder als schwer erreichbar, soweit sie zur Abwehrkraft gehören. Diese Unterscheidung konnte nicht gemacht werden bei den Gütern, welche den Tastsinn ergötzen, weil dergleichen Güter die niedrigsten sind und den Menschen zugleich mit den Tieren zukommen. Rücksichtlich des Geldes nun, schlechthin genommen, insofern es Gegenstand der Begehrkraft ist, also geliebt, verlangt wird und ergötzt, ist die Tugend der Freigebigkeit (liberalitas); und wird es als schwer zu erreichendes Gut, als Gegenstand der Hoffnung genommen, so ist da die Tugend der Prachtliebe (magnificentia). Rücksichtlich der Ehre, schlechthin genommen, als einem Gegenstande der Liebe, ist da die Ehrliebe (philotimia); und als schwer zu erreichendes Gut betrachtet, als Gegenstand der Hoffnung, ist die Großmut (magnanimitas). Die Freigebigkeit und Ehrliebe also wären in der Begehrkraft; die Prachtliebe und Großmut in der Abwehrkraft. Das Gute des Menschen aber in Bezug auf den anderen scheint keine Schwierigkeit in seiner Natur einzuschließen; weshalb es nur als schlechthin gegebenes aufgefaßt wird, insoweit es also Gegenstand für die Leidenschaften der Begehrkraft dasteht. Das Gute nun, insoweit es sich einem anderen gegenüber darbietet, kann jemandem ergötzlich sein, entweder in dem, was mit Ernst betrieben wird, d. h. wegen eines von vornherein gegebenen Zweckes — oder im Spiele, d. h. in dem was nur zum Ergötzen Beziehung hat. In den mit Ernst betriebenen Sachen kann sich jemand dem anderen als ergötzlich hinstellen: einmal auf Grund von anständigen Worten und Thaten; und diese Tugend nennt Aristoteles Freundschaft, wir können sie Gefälligkeit (affabilitas) nennen; — dann auf Grund dessen, daß er sich ihm offen giebt, wie er ist; und das regelt die Tugend der Wahrheit. Rücksichtlich des Spieles aber besteht eine andere Tugend, die Aristoteles Eutrapelia, angenehmen Verkehr nennt. So also befassen sich mit den Leidenschaften zehn Tugenden: Die Stärke, Mäßigkeit, Freigebigkeit, Prachtliebe, Großmut, Ehrliebe, Sanftmut, Freundschaft (Gefälligkeit), Wahrheit und die Eutrapelie. Sie werden unterschieden nach den verschiedenen Vermögen, wo sie sind, nach den verschiedenen Leidenschaften und den verschiedenen Gegenständen. Wird zu ihnen die Gerechtigkeit hinzugefügt, so haben wir elf moralische Tugenden.
c) I. Alle Gegenstände der nämlichen Thätigkeit haben die gleiche Beziehung zur Vernunft; was bei den Leidenschaften der nämlichen Gattung nicht der Fall ist. Denn die Thätigkeiten widerstreiten nicht der Vernunft, wie dies die Leidenschaften thun. II. Der Grund für die beiderseitige Unterscheidung ist für jeden Teil ein verschiedener. III. Nicht das „mehr“ oder „minder“ kommt hier in Frage, sondern die verschiedenartige Beziehung zur Vernunft. IV. Das Gute ist stärker im Bewegen wie das Böse; denn „Letzteres wirkt ja nur kraft des Guten.“ (Dionys. 4. de div. nom.) Das Böse oder das Übel macht also der Vernunft keine solche Schwierigkeit, daß sie eine Tugend erforderte; außer wenn das Übel ein überragendes ist. Deshalb wird nur eine Tugend dagegen angesetzt, die Sanftmut nämlich gegen die Zornausbrüche; und gegen das Übel, wogegen man angeht durch die Kühnheit, um diese vernunftgemäß zu lenken, die Stärke. In der einen Art Leidenschaft nämlich ist immer auf dieselbe eine Weise das Übel. Das Gute aber bringt Schwierigkeiten mit sich, wenn es auch kein überragendes, schwer zu erreichendes Gute ist; und diese Schwierigkeiten erfordern verschiedene Tugenden. Und deshalb befassen sich mit den Begierlichkeiten verschiedene moralische Tugenden; wie oben gesagt worden.