Zweiter Artikel. Die theologischen Tugenden sind verschieden von denen in der Vernunft und den moralischen.
a) Ein solcher Unterschied ist unerklärlich. Denn: I. Da diese Tugenden in der menschlichen Seele sind, vollenden sie dieselbe entweder im vernünftigen oder im begehrenden Teile. Also sind sie entweder Tugenden in der Vernunft oder es sind moralische Tugenden; und so ist da kein Unterschied. II. Die theologischen Tugenden ordnen uns zu Gott hin. Dies thut aber die Weisheit in der Vernunft, welche ja Göttliches zum Gegenstande hat, insofern sie auf die höchste Ursache gerichtet ist. Also ist kein Unterschied zwischen den theologischen Tugenden und denen in der Vernunft. III. Augustin beschreibt (de morib. Eccl. 15.), wie die Kardinaltugenden „die Ordnung der Liebe“ bilden. Die Liebe aber steht unter den theologischen Tugenden. Also ist da kein Unterschied von den moralischen. Auf der anderen Seite ist unterschieden das, was über der Natur des Menschen ist von dem, was gemäß dieser Natur ist. Die theologischen Tugenden aber sind über der Natur des Menschen; während gemäß seiner Natur ihm zukommen die Tugenden in der Vernunft und die moralischen. Also.
b) Ich antworte, die Zustände unterscheiden sich (Kap. 54, Art. 2.) nach dem formal bestimmenden Grunde in den Gegenständen. Der Gegenstand für die theologischen Tugenden aber ist Gott selber als letzter Zweck aller Dinge, insoweit Er die Kenntnis unserer Vernunft überragt; während der Gegenstand der Tugenden in der Vernunft und der moralischen von der menschlichen Vernunft begriffen werden kann. Also ist da ein wesentlicher Gattungsunterschied vorhanden.
c) I. Die Tugenden in der Vernunft und die moralischen vollenden die Vernunft und den Willen den natürlichen Verhältnissen gemäß; die theologischen in übernatürlicher Weise. II. Die genannte Tugend der Weisheit betrachtet Göttliches; insoweit die menschliche natürliche Vernunft es durchdringen kann. III. Das Wort Augustins kann von der gewöhnlichen Liebe verstanden werden; und so ist jede Tugend „die Ordnung der Liebe“ insoweit zu einer jeden der Kardinaltugenden erfordert wird eine geregelte Hinneigung, und von jeder Hinneigung die Wurzel und der Anfang in der Liebe gefunden wird. Wird diese Liebe aber hier als die göttliche Liebe aufgefaßt, nämlich als die theologische Tugend, so will das nicht heißen, jede Tugend sei ihrem Wesen nach Liebe; sondern daß alle anderen Tugenden einigermaßen abhängig seien von der Liebe. (Vgl. Kap. 62, Art. 4.; und unten II, II, Kap. 23.)
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