Fünfzehntes Kapitel. Die Ideen oder Vorbilder in Gott. Überleitung.
„In meine Hände habe ich Dich geschrieben: und Deine Mauern sind vor meinen Augen immer;“ sagt der Herr selber trostvoll zu seiner geliebten Seele. (Isai. 49,16.) Die eben vorgestellten Wahrheiten vergegenwärtigen uns die Tiefe und die umfassende Tragweite dieser Worte des Propheten. „Ich habe beobachtet Dein Gesetz und Deine Zeugnisse; denn alle meine Wege sind vor Deinem Antlitze;“ so hatte bereits der Psalmist dieselbe friedreiche Lehre ausgedruckt. Die große Heerstraße der Zeit, in welcher alle einzelnen Wege der Kreaturen münden, umgreift der Ewige mit einem Blicke von der erhabenen Feste seiner Ewigkeit aus. Adam ist nach seinem wirklichen Sein für die Zeit seiner Existenz ebensogut dem einen Blicke des Ewigen gegenwärtig wie Judas, wie der Antichrist für die Zeit der seinigen. Und Er, der Ewige, ist nicht wie ein Felsen am Strome, an demTropfen um Tropfen vörüberrollt und der immer derselbe bleibt. Nein; alle diese Wassertropfen der zeitlichen Dinge sind insgesamt zugleich gemäß ihrer Wirklichkeit vor Ihm. Etwa wie Jemand, der auf einer Anhöhe befindlich, die ganze Reihe der unten auf der Straße Vorüberwandelnden zugleich mit seinem Blicke umfaßt, während jene, welche vörüberwandeln, ihre Hintermänner nicht schen und einer nach dem anderen schreitet; — so geht alles vor Gott vorüber: Alles schaut er gleichzeitig im Alles umfassenden Momente der nie anfangenden und nie endenden Ewigkeit. Mit Rücksicht auf die nächsten unmittelbaren Ursachen besteht Aufeinanderfolge; vor der ersten Ursache ist alles zugleich! Das ist ja so natürlich. Gott schaut nämlich nur deshalb, weil Er wirkt. Sein Schauen bringt erst hervor was ist; und erst auf Grund dessen steht jegliches Sein gegenwärtig vor seinem Antlitze. Sein Schauen aber ist sein ewiges allumfassendes Sein; es ist sein Wirken selber. Welche Majestät und ganz staunenswerte Kraft seines Schauens! Er schaut — und die Abgründe brechen hervor aus der Tiefe. Er schaut — und die Sonne steht da am Firmamente mit allen Milliarden Sternen. Er schaut — und es sproßt und blüht auf der Erde, mit Wonne durchmißt der Adler die Luft und brüllt der Löwe nach Beute. Er schaut — und siehe da; jegliches Ding ist thätig gemäß seinem eigenen Wesen, gemäß den ihm gesetzten nächsten Ursachen. In sich betrachtet und im Verhältnisse zu seinen nächsten Ursachen entwickelt es sich, hat Aufeinanderfolge, wächst und nimmt ab, entsteht und vergeht; trotzdem aber bleibt alles wirkliche Sein, das es besessen, immer gleichmäßig vor Gottes Antlitze. Es wogen auf und nieder gleichsam die geschöpflichen Vermögen und stoßen an hie und da an das ewige Wirklichsein. Sie nehmen dann insoweit selber an der Wirklichkeit teil, bleiben aber in sich immerdar nur Vermögen, fähig zu sein, fähig nicht zu sein. Und ein weiteres trostreiches Geheimnis, das wie eine unüberwindliche Festungsmauer uns beschützt, offenbart der Prophet: „Dich habe ich in meine Hände geschrieben;“ gerade so wie der Psalmist betont hatte: „Wunderbar ist geworden deine Wissenschaft aus mir.“ Gott schaut und wirkt wesentlich anders wie die Kreatur. Die Kreatur erfaßt zuerst die allgemeinen Wesenheiten, die Vermögen; und nach dieser Richtschnur wirkt sie das Einzelne und schaut es dann. Gott wirkt dadurch, daß Er schaut. Das Schauen richtet sich aber immer auf das Einzelne als solches. Gott schaut nicht zuerst die geschopflichen Vermögen und Wesenheiten, um dann auf Grund dessen das einzelne Wirkliche zu bestimmen. Nein; Er schaut zu allererst Sich selbst, das reinste einzelnste Sein. Und in Sich selbst schaut Er die einzelne Wirklichkeit des Geschöpfes und erst auf Grund derselben, in dieser Wirklichkeit schaut Er eingeschlossen die entsprechenden allgemeinen Wesenheiten und Vermögen. Von der Möglichkeit geht die Kreatur aus und gelangt zur Wirklichkeit; von der einzelnen Wirklichkeit geht der Schöpfer und aus dieser Wirklichkeit fltießt im Geschöpfe alles Möglichsein. „Mich, den einzelnen Menschen, hat Er in Seine Hände geschrieben.“ Aus dieser Wirklichkeit ergiebt sich alles, was an Vermögen und Fähigkeit in mir ist, nicht daß sich für Gott meine Wirklichkeit auf der Möglichkeit aufbaute. „Aus mir wird wunderbar sein Wissen.“ Mein einzelner Akt ist zu allererst von Gott geschaut, wie derselbe hervorgeht aus der geheimnisvollen Schatzkammer der göttlichen Liebe. Er ist im Wirken von Gott aus zuerst; aus dieser Wirklichkeit erst fließt in der Kreatur, soweit sie von Gott abhängt, Kraft in das Vermögen; und in dieser Wirklichkeit schaut Gott den darin enthaltenen Grad des Vermögens. Das Einzelne kehrt dem Schöpfer eine andere Seite zu wie uns. Was sind für unsere Vernunft die einzelnen Steine, die da lose zerstreut am Wege liegen? Was sind die Pinsel und die Farben, welche in ihrer Unordnung das Zimmer des Malers verunstalten? Nichts sind sie als einzelne. Daß das eine nicht ist das andere; das ist kurz alles, was ihr Einzelnsein bildet. Erst wenn die Vernunft erwägt, wie die Teile im Steine zusammengehalten werden durch die allgemeine innere Natur des Steines; wie Farbe und Umfang bedingt ist durch diese selbe Natur; wenn sie erwägt, in welcher Weise kraft seiner Natur der Stein in Verbindung treten kann mit der Luft, mit dem Wasser, mit dem Feuer etc. Dann erst ergiebt sich für sie etwas Positives. Aber das ist zugleich auch nicht mehr im Geschöpfe das Einzelne als solches. Das ist nicht mehr das Getrenntsein von allem anderen. Das ist vielmehr eine positive Möglichkeit im Steine selbst, von innen aus die Bildung und Entwicklung des Steines irgendwie zu leiten; und diese Möglichkeit, die innere Natur ist allen Steinen gemeinschaftlich. Kommt der einzelne Stein als einzelner in Betracht, so ist nur das Nicht-das-Andere-Seinu für das geschöpfliche Erkennen maßgebend. Wie aber, wenn nicht die kalte Vernunft, sondern das Künstlerauge auf solchen Steinen, auf solch zerstreut daliegenden Farben ruht! Da setzen sich sogleich diese Steine eben als einzelne zum kühnen gothischen Bogen zusammen. Da gewinnen diese Farben, eben weil sie einzelne sind, weil die eine nicht die andere ist, allsobald die Gestalt eines Madonnenbildes. Die Kunst fragt an erster Stelle nicht nach dem inneren Wesen, wie viele Teile etwa dasselbe hat, wie es sich in Arten und Gattungen gliedert. Auf das Einzelne geht sie in Farbe, Gewicht, Umfang, Gestalt. Und dieses Einzelne findet als solches seinen Platz und seine positive Geltung im Ganzen des Kunstwerkes. So ein Künstler ist Gott; nicht zwar mit Rücksicht auf irgend welches schon fertiges Sein, sondern mit Rücksicht auf alles und unter Voraussetzung von nichts. Nichtsein ist für die geschöpfliche Vernunft das wirkliche Sein; ein Unterschiedensein nur vom anderen. Das allgemeine Vermögen allein existiert für sie; es ist ihr eigentlicher Gegenstand. Und in der That eilt ja auch das wirkliche einzelne Sein stets vorüber. Es ist nichts, denn es bleibt nicht; und nur das innere Vermögen wie Wesenheit, Vernunft, Wille bleibt und kann dauernd erfaßt werden. Warum eilt das Wirkliche vorüber? Warum kann die Schärfe unseres Geistes das Wirklichsein nicht festhalten? Es mangelt diesem Sein zu viel! Das Einzelne ist nur dann etwas Positives im Sein, wenn es als Teil zum Teile und wenn die Teile im Ganzen sind. In Gott allein findet es schließlich das Ganze; in Gott, von dem es ausgegangen und durch das Nichts gedrungen ist, findet es Wahrheit und Wirklichkeit. In Gott findet es die Ehre, die ihm gebührt. Hier liegt das Grund-Welt-Rätsel vor. Alles wird hier in der Schöpfung von der Wirklichkeit getragen und ist ein Ausfluß davon. Mag ein Vermögen noch so groß sein; es kann nur existieren, falls eine Wirklichkeit und mag es die geringste sein, es trägt. Alles Sichtbare umfaßt unser Auge; groß, umfassend ist sein Sehvermögen. Und ist es nicht in der Wirklichkeit auf etwas, wenn auch auf den geringsten Gegenstand, gerichtet, so ist es völlig unnütz. Die ganze Welt umfaßt unsere Vernunft, Sichtbares und Unsichtbares, Vermögen und Wirklichkeit, Wesen und Zufälligkeit; aber diese Vernunft ist an sich nur Vermögen. Der kleinste wirkliche Akt ist genügend, dieses gewaltige Vermögen dem Leben zu übergeben. Und doch ist diese überall einfließende einzelne Wirklichkeit für unsere Vernunft umfaßbar. Keinen es festhaltenden Grund nämlich trägt das Einzelne als solches in sich. Diesen Grund hat es allein in Gottes Willen. Gott ist der eigentliche Künstler im geschaffenen Einzel-Sein. Er schaut in Sich selber die einzelnen Wirklichkeiten. Er schaut, wie viele Vermögen und Fähigkeiten in ihnen enthalten sind und aus ihnen in das Nichts fließen können. Er fügt sie zusammen zum erhabenen Kunstwerke des Weltalls, zum geheimnisvollen Bau der himmlischen Stadt Gottes. Da tritt das Einzelne in lebendige Beziehung zum anderen; da gewinnt es Kraft und Macht; und fällt es sich selbst überlassen, d. h. vereinzelt, uns gegenüber dem Nichts zu, so steigt es dagegen hier an der mächtigen Vaterhand gemäß den Kunstideen Gottes empor aus dem Nichts zu seinem Ehrenplatze in der Ewigkeit. Hier ist die Quelle alles Wunderbaren in der Wissenschaft Gottes. „Alle meine einzelnen Wege sind vor Deinem Blicke.“ „Er hat die Himmel gemacht in seinem Verstande.“ „Mit dem Verstande seiner Hände hat er sie geleitet.“ „Die Welt ist unsichtbar bereitet im Worte Gottes, auf daß aus den unsichtbaren Dingen die sichtbaren würden;“ so bestätigt Paulus den Psalmisten. „Ich habe Dich in meine Hände geschrieben.“ Die unsichtbaren Engel sind erhaben in ihrer Natur, reich an Wissen, gewaltig an Macht, dauernd in Ewigkeit! Denn so entspricht es dem ewigen Vorbilde der wirkenden Kunstidee in Gott. Die sichtbaren Kreaturen sind allseitig beschränkt, stofflich an Zeit und Ort gebunden, unfähig selbst, sich von sich Allein aus zu bewegen! Gerade so aber sind sie ähnlich dem Wesen Gottes, wie es für sie die göttliche Idee mit sich bringt. Leben durchdringt den Menschen, frisch schauen seine Sinne hinaus in Gottes Natur und bringen Nahrung dem Geiste; das Wesen der Dinge kann er durchdringen; mit Freiheit wollen sein ewiges Ziel; Gott erkennen, seinen liebreichen Schöpfer, Ihn lieben als sein höchstes Gut! In den Ideen Gottes sind als in der ersten maßgebenden Richtschnur alle seine Werke ewig vorgebildet; dem Wesen Gottes werden sie unter der leitenden Kraft Gottes selber ähnlich gestaltet. Was würde man von einem Maler sagen, der da einzig und allein sein Antlitz schauend tausend verschiedenartige Bilder herstellte! Gott schaut allein sein Wesen; und Millionen und abermals Millionen Kreaturen gehen hervor, von denen jede verschieden von der anderen ist; jede in eigener Weise dem Wesen Gottes ähnelt; und die da alle zusammen nur ein Abglanz sind des ewigen göttlichen Wesens und zwar ein so schwacher nichtssagender Abglanz, daß sie alle nur verkünden, was Gott nicht ist. Da ist dein Heim; o Mensch! Da ist deine Wohnung bereits gebaut und wunderbar schön eingerichtet, im Wesen Gottes selber, das du einst schauen sollst, wie es ist: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen,“ sagt der Herr. Da, zu diesen himmlischen Tabernakeln, zur wahrhaften Ähnlichkeit mit dir selbst hin lenke, soweit du es nur immer erkennen kannst, deine Schritte; damit du nicht endest in eitlem Wohlgefallen an dir selbst, sondern nur immer auf Gott und seine Macht vertraust und Ihn allein ehrest. Denn „in seine Hände hat Er dich geschrieben.“ Nur etwas, nur eine einzige Art von Werken ist nicht in Ihm; sie haben kein Vorbild in Ihm. Zur Verrichtung derselben kommt dir nicht die Kraft und das Ziel im einzelnen von der bestimmenden Gestalt Gottes: das ist die Sünde. Alles Übrige und mag es der Tod selbst sein, besitzest du oder es vollzieht sich an dir, weil die leitende und vorbildende, die künstlerisch wirkende und vollendende Idee davon, zu allererst in Gott ist. Hören wir Thomas.
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