Fünfter Artikel. Die Sünde kann ihren Sitz haben in der Vernunft.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die Sünde in einem Vermögen ist ein Mangel in demselben. Der Mangel in der Vernunft aber entschuldigt vielmehr die Sünde als daß er selber Sünde wäre. Also ist in der Vernunft keine Sünde. II. Der erste Sitz der Sünde ist der Wille. Die Thätigkeit der Vernunft aber geht vorher der des Willens, da sie diesen leitet. III. Die Sünde kann nur in dem sein, was in unserer Gewalt ist. Das ist aber nicht der Fall mit der Vollendung und dem Mangel in der Vernunft; denn vielen fehlt von Natur die Schärfe der vernünftigen Unterscheidungskraft. Auf der anderen Seite sagt Augustin (12. de Trin. 12.): „Die Sünde ist sowohl in der niedrigen, d. h. in der auf das Niedrige gerichteten Vernunft, als auch in der höheren, die sich mit Göttlichem beschäftigt.“
b) Ich antworte, die Sünde in irgend welchem Vermögen bestehe in dessen Thätigkeit. Nun hat die Vernunft eine doppelte Thätigkeit: die eine ist die ihrer Natur eigens entsprechende, im Verhältnisse zu ihrem eigenen Gegenstande befindliche, die da ist „das Wahre erkennen.“ Die andere ist, die anderen Kräfte zu leiten in deren Thätigsein. Mit Bezug auf die erstere Thätigkeit ist Sünde in der Vernunft, wenn sie das Wahre, was sie kann und soll erkennen, thatsächlich nichr weiß; — mit Bezug auf die zweite, wenn sie die ungeregelten Bewegungen der niederen Kräfte befiehlt oder nach stattgefundener Überlegung nicht zurückweist.
c) I. Dies betrifft die Erkenntnis des Wahren seitens der Vernunft, soweit diese es nicht erkennen kann; und solcher Mangel entschuldigt von Sünde, wie bei den Wahnsinnigen. Betrifft aber ein derartiger Mangel das, was der Mensch wissen kann und soll; dann ist da, anstatt Entschuldigung, Sünde. II. Nach einer Seite hin geht die Thätigkeit der Vernunft der des Willens voran und nach einer anderen Seite hin die des Willens dem Thätigsein der Vernunft (vgl. Kap. 17, Art. 1.), so daß die Thätigkeit der Vernunft eine freiwillige genannt wird und die des Willens eine vernünftige. Und danach ist die Vernunft Sitz von Sünden entweder weil der Mangel in ihr ein freiwilliger ist oder insofern sie das Princip für den Willensakt ist. III. Ist damit beantwortet.
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