Achter Artikel. Die Wahrheit der göttlichen Vernunft allein ist unveränderlich; nicht die der geschöpflichen.
) Die Wahrheit scheint an sich unveränderlich zu sein. Denn: I. Augustin sagt (2. de lib. arb. cap. 12.): „Die Wahrheit ist nicht ähnlich dem Geiste, sonst wäre sie veränderlich, wie dieser es ist.“ II. Was nach jeglicher Veränderung gleichermaßen übrig bleibt, ist unveränderlich; wie der Urstoff ungezeugt ist mit Rücksicht auf die geschaffenen Dinge und danach auch von keiner beschränkten Ursache vernichtet werden kann, also unvergänglich ist. Denn nach jeder Erzeugung und jedem Vergehen bleibt er übrig als die stets gleichmäßige Grundlage für weiteres Entstehen und Vergehen von einem aus dem anderen. Die Wahrheit aber bleibt immer dieselbe nach jeder Veränderung, weil es immer wahr ist, das Sein oder Nichtsein eines Dinges zu behaupten. . III. Wenn die Wahrheit eines Satzes sich ändert, so geschieht dies auf Grund der veränderten Sachlage. In dieser Weise wird sie aber nicht geändert. Denn Anfelmus sagt (de verit. cap. 5.): „Die Wahrheit ist eine gewisse Gradheit oder ein Aufrechtstehen, insofern ein Ding das erfüllt, was von ihm in der göttlichen Vernunft sich findet.“ Dieser Satz aber: „Sokrates sitzt,“ empfängt dies von der göttlichen Vernunft, daß er bezeichnet, Sokrates sitze. Also bezeichnet er ganz dasselbe, wenn auch Sokrates aufgestanden ist. Und so wird die Wahrheit keines Satzes geändert. IV. Wo ein und derselbe Grund besteht, ist auch ein und dieselbe Wirkung. Ein und dieselbe Sache aber ist der Grund für diese drei Sätze: Sokrates sitzt, er wird sitzen, er hat gesessen. Also besteht auch immerdar ein und dieselbe Wahrheit in diesen drei Sätzen. Es ist aber nun notwendig, daß einer dieser drei Sätze für den Augenblick wahr sei. Also mag Sokrates sitzen oder nicht; die Wahrheit bleibt unverändert in jedem Falle dieselbe. Und das nämliche gilt von allen Sätzen. Auf der anderen Seite heißt es Ps. 11,2: „Zerstückelt sind worden die Wahrheiten von den Kindern der Menschen.“
b) Ich antworte; die Wahrheit ist dem Wesen nach in der Vernunft. Die Dinge »erden wahr genannt nur lraft.der Beziehung derselben zu einer Vernunft. Somit ist die Veränderlichkeit der Wahrheit zu erwägen, je nach der Veränderlichkeit der jedesmaligen Vernunft. Und die Wahrheit der Vernunft besteht darin, daß dieselbe Gleichförmigkeit hat mit den erkannten Dingen. Diese Gleichförmigkeit kann nun einer doppelten Veränderung unterliegen; wie auch jede andere Ähnlichkeit auf Grund einer Veränderung in einem der beiden Glieder eine Änderung erleidet. So verändert sich die Wahrheit von seiten der Vernunft, insofern jemand von derselben Sache bald diese bald eine andere Meinung hat; — es verändert sich die Wahrheit von seiten der erkannten Sache insofern, während das Verständnis dasselbe bleibt, die äußere Sachlage sich ändert. Wo demgemäß vön keiner Seite eine Änderung herkommen kann, weder von der Vernunft und ihrer Auffassung noch von dem Zustande des verstandenen Dinges; da ist volle Unveränderlichkeit in der Wahrheit. Und diese kommt allein Gott zu, dessen Erkenntnis sein eigenes Sein, also sein eigener Gegenstand ist. Die Wahrheit unserer Vernunft aber ist veränderlich; nicht gerade weil sie selbst die Trägerin der Veränderlichkeit sei, sondern weil unsere Vernunft vom Wahren zum Falschen hin verändert wird; so nämlich können solche Erkenntnisformen als veränderlich bezeichnet werden. Denn insoweit die Dinge selber der ewigen Vernunft ähnlich sind, ist mit ihrer Wahrheit Unveländerlichkeit verbunden.
c) I. Augustin meint die ewige Wahrheit. II. Sein wird, insofern es auf die Wirklichkeit ankommt, ganz ebenso ausgesagt, wie das Wahre. Wie also das Sein nicht an sich erzeugt wird oder vergeht, sondern unter Voraussetzung einer Bedingung, insofern nämlich dieses oder jenes bestimmte Sein erzeugt wird oder vergeht, so auch wird die Wahrheit geändert; nicht als ob keine Wahrheit mehr zürückbliebe, sondern jene bestimmte Wahrheit besteht nicht mehr, welche, früher bestand. III. Jeglicher Satz hat nicht nur Wahrheit nach der Weise, wie jedes Ding sie hat, sondern auch noch in besonderer Weise, insofern er für die Wahrheit der Vernunft eine Bezeichnung ist. Die Wahrheit aber besteht in der Gleichförmigkeit des Dinges mit der Vernunft. Wird also diese Gleichförmigkeit fortgenommen, so ändert sich auch die Wahrheit. So ist dieser Satz: Sokrates sitzt, wahr sowohl der Wahrheit der Sache, nämlich der Wahrheit, die in Sokrates ist, nach; als auch der Wahrheit der Bezeichnung gemäß. Steht nun Sokrates auf, so bleibt die erste Wahrheit: der wahre Sokrates. Aber es besteht nicht mehr die zweite: Sokrates kann nicht als Sitzender bezeichnet werden; und geschieht es, so ist der Satz falsch IV. Die äußere Sachlage verhält sich nicht gleichmäßig, wenn Sokrates sitzt oder nachdem und bevor er gesessen hat. Und demgemäß ändert sich auch die Wahrheit, welche von dieser Vergangenheit und Zukunft verursacht worden ist. Es kann also der eine von den drei Sätzen wahr sein; und doch ist die Wahrheit dabei eine veränderte.