Zweiter Artikel. Das menschliche Gesetz soll nicht alle jlaster zügeln.
a) Dies scheint aber. Denn: I. Isidor sagt (I. c.): „Die Gesetze sind gemacht, damit die Furcht vor ihnen die Verwegenheit zügele.“ Das geschähe aber nicht in genügender Weise, wenn nicht jedes Übel vom Gesetze gestraft würde. II. Das Gesetz soll tugendhaft machen. Also muß es dahin wirken, daß man sich aller Sünden enthalte. III. Das menschliche Gesetz ist abgeleitet vom natürlichen, dem alle Laster widerstreiten. (Kap. 91, Art. 3.) Auf der anderen Seite sagt Augustin (1. de lib. arbitr. 5.): „Es scheint mir, daß dieses Gesetz da, welches zur Leitung des Volkes dient, mit Recht Manches zu erlauben und es der göttlichen Sühnung zu überlassen hat.“ Also mit Recht übersieht das menschliche Gesetz manches Fehlerhafte.
b) Ich antworte, das Gesetz solle die menschlichen Thätigkeiten regeln. Das Maß oder die Regel aber muß dem Gemessenen und Geregelten gleich artig sein. Also müssen die Gesetze aufgestellt werden gemäß der Lage der Menschen; sie müssen „möglich sein, der Natur und der Gewohnheit entsprechen,“ sagte Isidor. Die Fähigkeit aber thätig zu sein, kommt von einem inneren Zustande. Denn nicht das Nämliche ist möglich dem Tugendhaften was dem Nichttugendhaften; und nicht dasselbe den Kindern wie den Erwachsenen. Vieles also wird erlaubt den in der Tugend nicht Vollendeten, was bei Tugendhaften nicht zu ertragen wäre. Das Gesetz aber wird für eine Menge Menschen gemacht, wovon der größte Teil nicht in der Tugend vollendet ist. Deshalb also werden vom Gesetze aus nicht alle Fehler verboten, deren sich die Tugendhaften enthalten; sondern nur die gröberen, deren sich der größte Teil der Menge enthalten kann, und vorzüglich jene, die zum Nachteile der Nächsten ausschlagen und somit das ruhige Zusammenleben hindern; wie Diebstahl, Ehebruch u. dgl.
c) I. „Verwegenheit“ scheint sich auf den Angriff gegen andere zu beziehen. Also erwächst dadurch den Nächsten ein Nachteil. II. Das Gesetz erzieht zur Tugend, aber nach und nach; und deshalb überstürzt es nichts. Es folgt dabei den Aussprüchen des heiligen Geistes Prov. 30.: „Wer zu viel drückt, läßt Blut herausfiießen;“ und Matth. 9.: „Wenn der neue Wein,“ d. h. die Vorschriften des vollkommenen Lebens „in alte Schläuche geschüttet wird“ d. h. in unvollkommene Menschen, „so reißen die Schläuche und der Wein fließt heraus“ d. h. die Vorschriften werden verachtet und infolge der Verachtung sinken die Menschen hinab zu schlimmeren Dingen. III. Das natürliche Gesetz ist ein Anteil am ewigen Gesetze in uns. Das menschliche Gesetz aber ist unvollkommener als das ewige; wie Augustin sagt (1. de lib. arbitr. 5.): „Das Gesetz, welches zur Leitung der Staaten dient, erlaubt Manches und läßt es unbestraft, was indessen durch die göttliche Vorsehung seine Sühne findet; denn man muß nicht mißbilligen, was das Gesetz thut, aus dem Grunde, weil es nicht Alles thut.“
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