Zwölfter Artikel. Die Moralgebote des Alten Gesetzes konnten nicht rechtfertigen vor Gott.
a) Dies scheint aber der Fall gewesen zu sein. Denn: I. Röm. 2. heißt es: „Nicht die das Gesetz nur anhören, sind gerecht bei Gott, sondern die es erfüllen.“ II. Levit. 18. wird gesagt: „Haltet fest an meinen Gesetzen und Urteilen. Der Mensch, der sie thut, wird in ihnen leben.“ III. Das menschliche Gesetz macht gerecht; denn darin ist eine Gerechtigkeit, daß die Vorschriften des Gesetzes erfüllt werden. Also macht auch das weit wirksamere göttliche Gesetz gerecht. Auf der anderen Seite versteht Augustin (de spir. et litt. 14.) unter 2. Kor. 5.: „Der Buchstabe tötet“ auch die Moralvorschriften.
b) Ich antworte, wie als „gesund“ im eigentlichen Sinne bezeichnet wird, was Gesundheit wirklich hat; auf Grund dessen aber auch das, was die Ursache der Gesundheit ist wie die Medizin oder dieselbe nach außen hin zeigt wie die Farbe; — so ist „Rechtfertigung“ im leitenden und eigentlichen Sinne „die Herstellung der Gerechtigkeit;“ dagegen kann auf Grund dessen „Rechtfertigung“ genannt werden, was die Gerechtigkeit bezeichnet oder zu ihr vorbereitet. Auf diese beiden letzten Weisen rechtfertigten die Gebote des Alten Gesetzes, insoweit sie vorbereiteten auf die rechtfertigende Gnade Christi, die sie auch bezeichneten. Denn, sagt Augustin, „das ganze Leben jenes Volkes war Prophetie und eine Figur Christi.“ (Contra Faust. lib. 22, cap. 24.) Sprechen wir aber von der Rechtfertigung im eigentlichen Sinne, so kann die Gerechtigkeit genommen werden, soweit sie ein Zustand ist oder soweit sie in einer Thätigkeit besteht; also in der Weise daß der Mensch gerecht wird dadurch daß er in sich den Zustand oder die Tugend der Gerechtigkeit erlangt, oder in der Weise, daß jemand die Werke der Gerechtigkeit wirkt und somit Rechtfertigung nichts Anderes ist wie die Ausführung der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit nun hinwiederum kann, gleich allen anderen Tugenden, eine erworbene sein und eine eingegossene; vgl. Kap. 63, Art. 4. Die erstere wird verursacht durch die Thätigkeiten; die letztere allein durch Gott selbst, vermittelst der Gnade. Und von dieser letzteren Gerechtigkeit sprechen wir jetzt, nach welcher jemand gerecht ist bei Gott, gemäß Röm. 4.: „Wenn Abraham aus den Werken des Gesetzes gerechtfertigt worden ist, so hat er Herrlichkeit, aber nicht bei Gott.“ Diese Gerechtigkeit nun konnte nicht durch die Moralgebote verursacht werden, welche rein menschliche Thätigkeiten betreffen. Und danach konnten diese Moralvorschriften nicht rechtfertigen, indem sie die Gerechtigkeit verursachten; ebensowenig wie aus demselben Grunde die richterlichen Vorschriften, die, weil sie ebenfalls menschliche Handlungen betreffen, welche von Menschen aus gegenüber anderen Menschen sich vollziehen, gewissermaßen mit den Moralvorschriften übereinkommen. Aber auch die Ceremonialgesetze, die auf den Ritus der Sakramente sich bezogen, konnten nicht rechtfertigen; denn jene Sakramente verursachten nicht die Gnade wie die des Neuen Bundes, die da rechtfertigen als Ursachen der Gnade. Wird jedoch „Rechtfertigung“ genommen im Sinne von „Ausführung der Gerechtigkeit“, so rechtfertigten alle Gesetzesvorschriften; insoweit sie jenes enthielten, was an und für sich gerecht war; jedoch nicht alle Arten der Gerechtigkeit in der nämlichen Weise. Denn die Ceremonialvorschriften enthielten zwar in sich die Gerechtigkeit im allgemeinen, insoweit sie dienten dem göttlichen Kulte; im besonderen jedoch enthielten sie nicht die Gerechtigkeit in sich außer soweit das göttliche Gesetz diese Vorschriften erlassen hatte. Und deshalb gilt von derartigen Vorschriften, daß „sie nur rechtfertigten infolge der Andacht und des Gehorsams derer, die ihnen folgten und sie ausführten.“ Die moralischen und die richterlichen Vorschriften aber enthielten sowohl im allgemeinen wie im besonderen in sich das Gerechte; — jedoch die moralischen enthielten in sich das Gerechte, soweit nach 5 Ethic. 1 alle Tugend eine gewisse Gerechtigkeit ist; während die richterlichen es in sich enthielten, soweit die Gerechtigkeit speciell als Gerechtigkeit genommen wird und sich beschäftigt mit den Kontrakten unter den Menschen und Ahnlichem.
c) I. Der Apostel spricht da von der „Ausführung der Gerechtigkeit“. II. Der das Gesetz erfüllte, „lebte in ihm“, weil er nicht von der Todesstrafe getroffen wurde, die den Übertretern drohte; vgl. Galat. 3. III. Die Vorschriften des menschlichen Gesetzes rechtfertigen kraft der erworbenen Gerechtigkeit; wovon jetzt nicht die Rede ist. Hier gilt es die Gerechtigkeit bei Gott.
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