Erster Artikel. Die Gnade wird zulässigerweise geteilt in heilig- oder wohlgefälligmachende Gnade und in unverdiente Gnade zum Besten anderer.
a) Diese Einteilung ist unzulässig. Denn: I. Die Gnade ist eine Gabe Gottes. Der Mensch aber ist nicht deshalb Gott wohlgefällig, weil ihm etwas von Gott verliehen ward; sondern umgekehrt wird deshalb jemandem von Gott etwas unverdienterweise zum Besten anderer verliehen, weil ihm der Mensch wohlgefällig ist. Es giebt also keine Gnade, die da bewirkt, daß der Mensch Gott wohlgefällig ist. II. Unverdienterweise wird gegeben, was nicht auf Grund vorhergehender Verdienste gegeben wird. Dies ist aber auch mit der Natur selber in den Dingen der Fall. Also ist das „unverdient“ kein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal für die Gnade. III. Die heilig- oder wohlgefälligmachende Gnade ist ebenfalls unverdient; also muß man im letzteren Merkmal keinen trennenden Unterscheidungsgrund sehen. Auf der anderen Seite teilt der Gnade beide Merkmale der Apostel Paulus zu: „Er hat uns Sich wohlgefällig gemacht in seinem geliebten Sohne“ heißt es Ephes. 1.; — und Röm. 11.: „Wenn es aber Gnade ist, dann ist sie nicht verdient durch Werke; sonst wäre Gnade nicht mehr Gnade.“ Also kann die Gnade in dieser Weise unterschieden werden, daß sie entweder nur Eines hat: das „unverdient“; oder Beides: das „unverdient“ und „wohlgefälligmachend“.
b) Ich antworte, daß Jenes, was von Gott ausgeht, in geordneter Weise ausgeht. Da also nach Dionysius (de coel. hier. 4, 7 et 8.) ordnungsmäßig die einen der geschaffenen Wesen durch die anderen zu Gott hin geführt werden, so gilt dies auch von der Gnade, daß nämlich die einen unter den Menschen durch die anderen zu Gott geführt werden. Demgemäß ist nun eine doppelte Gnade anzunehmen: die eine, wodurch der einzelne Mensch selber mit Gott verbunden wird, welche deshalb „heilig- oder wohlgefälligmachende Gnade“ heißt; — die andere, wodurch der eine Mensch dem anderen beisteht, daß er zu Gott geleitet werde, welche nur das Merkmal des „unverdient“ hat und zum Besten der anderen gereicht, denn sie wird über die Kräfte der Natur hinaus verliehen und über des Menschen Verdienst hinaus; mit ihr ist aber nicht notwendig die Wohlgefälligkeit Gott gegenüber verbunden für den, der sie hat. Über sie sagt der Apostel (1. Kor. 12.): „Einem jeden wird die Offenbarung des Geistes verliehen zum Nutzen“ nämlich der anderen.
c) I. Die Gnade ist nicht die einwirkende Ursache davon, daß der Mensch gottwohlgefällig wird; sondern die im Menschen gewirkte formale Ursache ist sie, wodurch der Mensch in seinem Innern gerecht wird und Gott angenehm, nach Koloss. 1.: „Er hat gemacht, daß wir würdig sind des Loses der Heiligen im Lichte.“ II. Die Gnade als unverdient schließt es aus, daß sie geschuldet ist. Ein solches Geschuldetsein kann nun in doppelter Weise verstanden werden: 1. soweit etwas von einem Verdientsein ausgeht; und das wird bezogen auf die Person, deren Sache es ist verdienstliche Werke zu vollbringen, wonach Röm. 4. gesagt wird: „Für denjenigen, der wirkt, wird der Lohn angerechnet nach dem Verdienste dessen, was er gewirkt hat; nicht gemäß der Gnade;“ — 2. soweit etwas geschuldet wird nach der Beschaffenheit der Natur; wie z. B. wenn einmal ein Mensch bestehen soll, ihm ein Vernunftvermögen geschuldet ist und anderes dem Menschen von Natur aus Zukömmliche. In keiner von diesen beiden Weisen aber wird von Schuld seitens Gottes gesprochen, als ob dieser der Kreatur gegenüber verpflichtet sei; sondern vielmehr weil die Kreatur Gott Unterthan sein muß, damit die von der göttlichen Weisheit gewollte Ordnung in ihr erfüllt werde, und weil letztere eben darin besteht, daß eine solche bestimmte Natur auch bestimmte Vermögen und Eigenheiten hat und daß sie für entsprechende Thätigkeit einen bestimmten Zweck erreiche. Die mit der Natur verliehenen Gaben also entbehren der ersten Art des Geschutdetseins; nicht der zweiten. Die übernatürlichen Gaben entbehren beider; und deshalb werden sie speciell als Gnade bezeichnet. III. Die „heiligmachende“ Gnade fügt noch etwas hinzu zur bloß „unverdienten“; und deshalb wird letztere, wie das häufig vorkommt, nach dem gemeinsamen Momente genannt; und danach ist ein Gegensatz in dieser Unterscheidung.